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Arsenal London-Scout Steven Fraser war überaus erstaunt, als ihm im Frühjahr 2018 bei einer Spielbeobachtung das mutige Offensivspiel des HSV-Torhüters auffiel, das der damalige Cheftrainer Christian Tietz in seiner kurzen Zeit als Cheftrainer der Hanseaten spielen ließ. Fraser lobte die Torhüter-Revolution via Twitter: „Very interesting positioning in possession from Hamburg's Goalkeeper Julian Pollersbeck this weekend, love it! How long until we see a GK play square(ish) with one CB in possession within their own half?“ (Auf deutsch: Sehr interessantes Positionsspiel von Hamburgs Torhüter Julian Pollersbeck an diesem Wochenende, ich liebe es! Wie lang wird es dauern, bis ein Torhüter auf einer Höhe mit seinen Innenverteidigern in der eigenen Hälfte spielen wird?).

Den Torhüter ins Spiel der Mannschaft einzubeziehen, ist bei allen Profi-Teams inzwischen Standard. Aber einen Torwart, der als dritter Innenverteidiger auf so extrem hoher Linie zusammen mit seinen Innenverteidigern spielt, hatte es in der Bundesliga zuvor noch nicht gegeben. Auch wenn Christian Tietz mit dieser Spielweise den Abstieg des HSV nicht verhindern konnte, taugte die neue Interpretation des Torwartspiel doch als Anregung für Weiterentwicklungen auf der Torwartposition.

Seit Februar 2021 ist Christian Tietz Cheftrainer beim Zweitligisten FC Magdeburg. Auch in Magdeburg hat Tietz an seiner Vorstellung vom extremen Einbau des Torhüters ins Offensivspiel festgehalten. Nach meinem Kenntnisstand gibt es kein anderes Team, das die Torwartkette so extrem interpretiert wie der Zweitligist aus Sachsen-Anhalt. Doch wie funktioniert diese Spielweise, und welche Chancen und Risiken bringt sie in sich?

Was ist eigentlich eine Torwartkette?

Der Wort Kette verdeutlicht, was mit dem Begriff gemeint ist. Der Torhüter agiert in etwa auf einer Höhe mit den Innenverteidigern, er bildet mit ihnen eine Kette

Grundsätzlich unterscheidet man die tiefe, die mittlere und die hohe Torwartkette. Wie hoch die Kette stehen soll, hängt davon ab, welches Ziel verfolgt wird. In der Abbildung oben ist die tiefe Torwartkette dargestellt, die inzwischen in vielen Mannschaften zum festen Repertoire gehört. Der Torhüter verbleibt bei dieser Anordnung der Kette tief in seiner gewohnten Zone innerhalb des Strafraums, während sich die Innenverteidiger nach dem Rückpass seitlich von ihm auf etwa gleicher Höhe positionieren.

Die Vorteile hat diese Konstellation

Wenn der Torhüter nahezu auf gleicher Höhe mit seinen Innenverteidigern agiert, bringt das einige Vorteile für das Spiel seiner Mannschaft. Denn indem der Torhüter ins Passspiel der Mannschaft mit einbezogen wird, entsteht eine 11 gegen 10 Überzahl für die ballbesitzende Mannschaft, weil der gegnerische Torhüter keinen Gegenspieler deckt. Dadurch wird das sonst übliche zehn gegen zehn Feldspieler aufgehoben. Dieses numerische Übergewicht verschafft der ballbesitzenden Mannschaften einigen Optionen:

a) Kontrollierter Ballbesitz

Besonders gegen hoch pressende Gegner kann die ballbesitzende Mannschaft nach Rückpässen zum Torhüter in Überzahl den Ball innerhalb des Teams kontrollieren. Er hilft als Überzahlspieler mit, den Ball sicher in den eigenen Reihen zu halten. Wenn sich die Innenverteidiger (4 + 5) gleichzeitig mit dem Rückpass seitlich absetzen und so die gegnerischen Angreifer nach außen ziehen, schaffen sie dem Torhüter zusätzlich neue und vor allem vertikale Passwege in Richtung Zentrum (z.B. auf 6). Die Sicherung des eigenen Ballbesitzes steht bei dieser Variante im Vordergrund.

Durch die Überzahl fällt es dem Gegner zudem schwer, erfolgreich zu pressen, weil eine Mannschaft in Ballbesitz mit Hilfe des Torhüters die Pressing-Situation mit einem Pass auf den freien Mitspieler leicht auflösen kann. Besonders wenn eine Mannschaft in Führung liegt, kann sie den Gegner, der anlaufen muss, durch eine ständige Zirkulation des Balles zwischen Torhüter und Verteidigern ermüden.

b) Passwege erspielen

Ein weiterer Vorteil: Weil der Torhüter keinen Gegenspieler hat und zudem mit dem Blick nach vorne zum Spielfeld steht, erkennt er bei einer guten Wahrnehmung bereits vor dem Rückpass, wo sich Anspielstationen befinden. Er kann, wenn sich die Möglichkeit ergibt, mit einem öffnenden Pass das Spiel auf die andere Seite verlagern oder andere freie Anspielmöglichkeiten finden. Denn aus seiner Perspektive mit dem Blick über das gesamte Spielfeld erkennt er am besten, wo sich Passwege ergeben und welche Mitspieler sinnvollerweise und gefahrlos angespielt werden können.

c) Den Gegner locken

Ein weiteres Mittel dieser Anordnung ist, den Gegner zu locken. Dazu muss der Torhüter sich trauen, einen der gegnerischen Stürmer anzudribbeln. Sobald dieser den Torhüter anläuft, wird an anderer Stelle ein Mitspieler frei, wodurch sich neue freie Räume im Rücken des anlaufenden gegnerischen Spielers ergeben. So können mit der Torwartkette Räume hinter der ersten gegnerischen Abwehrreihe geöffnet und überspielt werden.

Die hohe Torwartkette

Noch weitere Möglichkeiten bietet die mittlere und vor allem die hohe Abwehrkette. Sie ist die extremste Form dieses Angriffsmittels und spielt in Christian Titz‘ System eine große Rolle. In manchen Situationen wird der Torhüter zum dritten, zentralen Innenverteidiger, der sich im Spielaufbau bis nahe der Mittellinie bewegt und als weitere Anspielstation die Bälle verteilt.

Eine mittelhohe oder hohe Torwartkette beinhaltet zweifellos ein gewisses Risiko. Denn wenn der Torhüter oder ein anderer Aufbauspieler den Ball verliert, ist der Weg des Torhüters zurück zum Tor weit und die Gefahr groß, mit einem Flugball über den Torhüter hinweg überrascht zu werden. Aus einem Ballverlust resultiert also höchste Torgefahr. Da aber die Torhüter von Saison zu Saison besser werden im Umgang mit dem Ball, minimiert sich das Risiko und ermöglicht es, das Spiel viel offensiver zu gestalten. Titz gewinnt der hohen Positionierung sogar einen Sicherheitsaspekt ab: „Wenn du hinten herum spielen lässt, um den 16er, da ist man eher vorsichtiger. Denn da ist ein Ballverlust gefährlicher. Wenn aber ein Spieler an der Mittellinie den Ball abfängt – der muss ihn erst einmal annehmen, sich den Ball zurechtlegen, dann kommt schon der Gegner, attackiert und stresst. Unser Torwart hat also Zeit ins Tor zurückzulaufen.“

Der Torhüter braucht ein gutes taktisches Verständnis, um zu erkennen, wann er hoch gehen kann oder wann er sich besser defensiver verhält, wann er die Verantwortung den Innenverteidigern überlässt oder wann er den Ball einfach lang spielt. „Bevor er Risiko geht und unter Gegnerdruck gerät, soll er einfach den Ball lang schlagen“, meint Christian Tietz. Richtig eingesetzt, kann dieser Ball zugleich ein gutes Angriffsmittel werden. Denn besonders im 4:3:3-System, das Tietz in Magdeburg bevorzugt spielen lässt, kann ein punktgenau in die Zwischenräume der Abwehrkette geschlagener Ball auf einen schnellen und dribbelstarken Außenstürmer (11 oder 7) zu höchster Torgefahr führen. Die hohe Positionierung des Keepers sorgt für eine kurze Flugphase des Balles. Aber auch ein Zielspieler (9) kann auf schnellem Weg erreicht werden.

Oft kann der Spielverlauf ein Kriterium sein, ob der Torhüter weit vor seinem eigenen Tor nahezu auf Höhe der Mittellinie als Überzahlspieler agiert. Solche Momente können sich anbieten, wenn sich die eigene Mannschaft im Rückstand befindet oder der Gegner tief in der eigenen Hälfte verteidigt. Dominante, spielstarke Mannschaften bekommen durch die offensive Positionierung des Torhüters einen weiteren Zielspieler für ihre Ballstafetten frei. Stehen die Innenverteidiger noch sehr breit und die Außenverteidiger schieben hoch, fällt es dem zahlenmäßig unterlegenen Gegner schwer, den Ball zu erobern und selbst die Kontrolle über das Spiel zu gewinnen.

Wie viele Mannschaften in den kommenden Jahren die Spielidee von Christian Tietz übernehmen oder Anregungen davon in ihr Torwartspiel einbauen werden, wird sich zeigen. Einige Nachahmer gibt es bereits in der ersten und zweiten Liga, wenn auch nicht in der ausgeprägten Form wie beim FC Magdeburg. Mit der Zunahme an spielstarken Torhütern erhöht sich aber die Wahrscheinlichkeit. Denn ein Torhüter, der beidfüßig den Weg zum freien Mitspieler findet, ist die Grundlage dieses Systems.

Auch die WM 2022 in Katar stellte eindrucksvoll unter Beweism dass die Rolle des Torhüters wird beim Spielaufbau immer wichtiger wird. Durch das inzwischen von vielen Mannschaften praktizierte Pressing nach Ballverlust ist es für die Mannschaft im Ballbesitz schwieriger geworden, einen geordneten Spielaufbau durchzuführen. Die hohe Torwartkette mit der hohen Positionierung des Torwarts wird die Statik des Spiels wieder verändern und auf diese Weise wieder neue Möglichkeiten entstehen lassen, weil sich durch die mit dem Torhüter entstandene Überzahl neue, veränderte und überraschende Passwinkel ergeben. Inwieweit Trainer diese Anregungen für ihr eigenes Spielsystem nutzen werden, hängt zum einen von ihrem Mut und ihrer Überzeugung ab und zum anderen von der spielerischen Qualität ihrer Torhüter. Eines ist aber unbestritten: Christian Titz hat das Verständnis des Torhüterspiels nachhaltig verändert.

Torwartspiel

Artur Stopper

Artur Stopper

Mit über 25 Jahren Erfahrung als Torwarttrainer weiß Artur, wie Torhüter ticken. Deshalb bevorzugt er Themen, die die Welt der Torhüter ausmachen: Vereinswechsel, Tiefschläge, Pechsträhnen, Höhenflüge, Emotionen, Ersatzbank, Halbgötter, Erfolge.

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