Die Untersuchungsergebnisse und Statistiken von den letzten EM- oder WM-Turnieren bis heute zeigen eine klare und gleichbleibende Entwicklung zu den Anforderungen an Torhüter. Zum modernen Torwartspiel gehören viele Offensivaktionen. Fast drei Viertel aller Aktionen, die ein Torhüter in einem Spiel zu bewältigen hat, ließen sich z.B. bei der EURO 2020 dem Offensivspiel mit Fuß oder Hand zuordnen. Nicht alle Aktionen stellen den Torhüter dabei vor große Aufgaben. Aber immerhin mehr als der Hälfte kann man als „anspruchsvoll“ bezeichnen. Eines wird absolut deutlich: Fußballerische Fähigkeiten sind im modernen Torwartspiel elementar. Doch wann ist der Torhüter im Offensivspiel fußballerisch gefordert und welche Fertigkeiten verlangen diese Anforderungen vom Keeper?
Offensivaktionen unter der Lupe
Nimmt man die Qualitätsaktionen im Offensivspiel genauer unter die Lupe, spielt vor allem die Spielfortsetzung nach einem Rückpass eine besondere Rolle. Rund 71 % der Aktionen entfielen auf diesen Bereich. Die Zahl verdeutlicht, wie stark der Torhüter inzwischen als elfter Feldspieler in das Spiel seiner Mannschaft eingebunden ist. Denn häufig wird er von seinen Mitspielern als Anspielpunkt gesucht, um anschließend Pressingsituationen im Überzahlspiel aufzulösen.
Wie die Grafik verdeutlicht, erfolgte in 11 % aller Fälle die Spielfortsetzung nach einer Defensivaktion. 14 % der Aktionen waren der Spieleröffnung zuzuordnen, 4 % dem Umschaltspiel.
Herausforderungen an den Keeper
Eines zeigen die Untersuchungen: Der Torhüter muss als mitspielender Torhüter über vielfältige und gut ausgebildete Fähigkeiten verfügen, um die an ihn gestellten Aufgaben gut und erfolgreich lösen zu können, denn die Herausforderungen bei den Offensivaktionen sind sehr komplex.
Verarbeitung von Rückpässen
Wie die Grafik zeigt, ist die Verarbeitung von Rückpässen mit 71 % für den Torhüter die mit Abstand häufigste Herausforderung im Offensivspiel, wenn der Schlussmann von seinen Mitspielern als Anspielstation gesucht wird.
a) Helfer zur Ballsicherung
Ein zentrales Element moderner Mannschaftstaktik im Defensivverhalten ist das kompakte Verschieben des Mannschaftsverbundes. Der Raum wird auf diese Weise für den Gegner sowohl in der Breite als auch in der Tiefe des Spielfelds minimiert. Gepaart mit Pressing werden auf diese Weise Passwege blockiert und der Gegner unter Druck gesetzt. Dadurch wird es den Abwehrspieler erschwert, Anspielstationen im Aufbauspiel zu finden. Gerät der Ballführende unter Gegnerdruck, ist oft ein Rückpass auf den Torhüter der letzte Ausweg, einem drohenden Ballverlust zu entgehen.
Aber auch wenn ein Abwehrspieler den Ball nach einem Steckpass oder langen Ball über die Abwehrkette hinweg im Laufduell gegen einen gegnerischen Angreifer erobert, ist der Rückpass zurück zum Torhüter eine häufig gewählte Option, um den Ball sicher in den eigenen Reihen zu halten.
Wie der Torhüter das Spiel nach einem Rückpass fortsetzt, hängt vor allem davon ab, ob ihn ein gegnerischer Spieler unter Druck setzt oder ob er den Ball in aller Ruhe kontrollieren kann. Wenn er von einem gegnerischen Spieler angelaufen wird, fehlt ihm meist die Zeit, den Pass „anzustoppen”und sich dann in der Spielumgebung zu orientieren, um sich letztlich für eine passende Anschlussaktion zu entscheiden. In diesem Fall muss er bereits vor dem Rückpass oder spätestens während des Rückpasses wahrgenommen haben, welche Anspielmöglichkeiten er zur Spielfortsetzung hat.
b) Gestalter im Aufbauspiel
Hat der Torhüter einen Ball abgewehrt oder bei einem Zuspiel erhalten, ist er als Gestalter und Impulsgeber für das Aufbauspiel gefordert. Denn er bestimmt, wie das Spiel fortgesetzt wird, er kann das Spieltempo steuern. Für die Spielfortsetzung stehen ihm grundsätzlich zwei Optionen zur Verfügung. Zum einen kann er als Überzahlspieler zusammen mit seinen Mitspielern das Spielgerät über Ballbesitz im Kurzpassspiel in den eigenen Reihen halten und kontrollieren.
Dazu kann er den Ball entweder zur Spielverlagerung auf einen der Innenverteidiger spielen (1), das Anspiel auf den Sechser suchen (2) oder den Ball auf einen Mitspieler auf eine der Halbpositionen passen (3), sofern der Passweg frei ist.
Hat der Gegner aber die Passwege zugestellt und setzt den Torhüter durch entsprechendes Anlaufen unter Druck, bietet sich für den Keeper zum anderen die Möglichkeit, die Räume hinter der ersten Angriffsreihe als Zielzone zu nutzen.
Dazu muss er erkennen, wo sich freie Aktionsräume für erfolgversprechende Anschlussaktionen ergeben, wo und in welcher Richtung sich Mitspieler anbieten und ins Spiel zu bringen sind. Vielleicht kann er einen Zielspieler nutzen, der einen Chipball gut gegenüber gegnerischen Abwehrspielern sichern kann. Vielleicht bietet sich aber auch ein langer Flugball auf einen durchstartenden Angreifer an.
Um die an ihm gestellten Aufgaben bewältigen zu können, braucht der Torhüter gute fußballtechnische Fertigkeiten und kognitive Fähigkeiten: Ein guter erster Ballkontakt, eine perfekte Ballmitnahme, ein geschicktes Anbieten und Freilaufen mit rechtzeitiger Vororientierung, ein sicheres Passspiel sowohl bei kurzen als auch langen Zuspielen. Es braucht aber auch Mitspieler, die bewusst freie Räume im Rücken der Gegner anlaufen oder besetzen, um dem Torhüter geeignete Passoptionen zu bieten.
Umschaltmomente nutzen
Das Umschaltspiel bezeichnet im Fußball ein schnelles Umschalten von Abwehr auf Angriff. Auch wenn Umschaltmomente bei der EM 2020 mit nur 4 % aller Offensivaktionen des Torhüters eine geringe Rolle spielten, ist es grundsätzlich eine gute Option, nach der Balleroberung den Gegner durch schnelles Umschalten mit einem Konter überraschen. Denn wenn der Gegner weit aufgerückt ist, öffnet er einen tiefen Raum hinter der Abwehrkette, den der Torhüter mit einem langen Hüftdrehstoß auf einen schnellen Angreifer oder weiten Abwurf in den Lauf eines durchstartenden Mitspielers bespielen kann, zumal wenn die gegnerische Abwehr noch ungeordnet ist, wie z.B. nach Eckbällen.
Yann Sommer leitete bei der EURO 2024 mit einem solchen Ball auf seinen Stürmer Breet Embolo den 2:1-Sieg der Schweiz gegen Ungarn ein. Um Umschaltmomente zu kreieren, braucht der Torhüter die Fähigkeit, einen platzierten Hüftdrehstoß auf den Angreifer spielen oder einen präzisen und langen Abwurf auf einen durchstartenden Mitspieler schleudern zu können.
Beidfüßigkeit
Noch eine wichtige Fertigkeit braucht der moderne Torhüter, nämlich die Beidfüßigkeit. Da die Stürmer den Torhüter immer aus unterschiedlichen Positionen und Richtungen anlaufen, muss er in der Lage sein, Bälle mit beiden Füßen verarbeiten zu können. In Gegneranalysen erkennen Spielanalysten sehr schnell, ob ein Torhüter auf einem Fuß eine Schwäche zeigt, und richten die Spieler darauf aus, den Torhüter immer wieder so anzulaufen, dass er mit seinem schwachen Fuß agieren muss. Auf diese Weise werden Ballverluste des Keepers provoziert und in schnelle Torabschlüsse umgewandelt. Ist er hingegen beidfüßig gut, ist er weniger leicht auszurechnen, bei Gegnerdruck ruhiger und in seinen Möglichkeiten variabler. Da das Spiel inzwischen so schnell geworden ist, bleibt dem Torhüter oft keine Zeit, den Ball von schwachen auf den starken Fuß zu verlagern oder einen langen Flugball nur mit einem Fuß spielen zu können. Deshalb muss er beidfüßig gut sein.
Erfolgreiche Mannschaften haben es vorgemacht, dass es sich lohnt, den Torhüter aktiv in den Spielaufbau mit einzubinden. Die Vorteile liegen auf der Hand. Ein Torhüter mit einem guten Fuß kann als Überzahlspieler den eigenen Ballbesitz mit kontrollieren, das Angriffspressing flach oder hoch überspielen sowie Umschaltmomente nutzen. Weil er dabei durch ihn anlaufende Gegenspieler häufig unter Gegnerdruck agieren muss, ist Beidfüßigkeit beim Torhüter inzwischen äußerst wichtig.