In der heutigen Sportberichterstattung wird häufig sowohl von den Trainern als auch in den Medien über die Taktik geredet. Für viele ist die richtige Strategie und Taktik der entscheidende Faktor, der über Sieg oder Niederlage entscheidet. Mit exakt ausgearbeiteten Matchplänen versuchen die Trainer deshalb, den Ausgang des Spiels möglichst planbar zu machen. Ähnlich einem Schachspiel soll mit der entsprechenden Taktik der Erfolg Zug für Zug herbeigeführt werden.
Zweifellos ist das richtige taktische Konzept ein entscheidender Faktor für den Erfolg eines Teams. Aber ohne die großartige Leistung der Borussia schmälern zu wollen ... Das Champions-League-Halbfinale zwischen Paris St. Germain gegen Borussia Dortmund hat wieder mal verdeutlicht, wie wichtig auch Zufall und Glück für den Erfolg sind, denn ohne diese heimlichen Unterstützer hätte der BVB das Finale wohl nicht erreicht. Denn in den beiden Halbfinalpartien landeten Schüsse der Franzosen insgesamt sechs Mal am Pfosten oder an der Querlatte des Dortmunder Tores. Das Quäntchen Glück hatte also beim Erfolg des BVB unübersehbar seine Finger mit im Spiel. Doch wie häufig spielt eigentlich der Faktor Zufall in Fußballspielen eine Rolle?
Professor Martin Lames von der Technischen Universität München hat mit seinem Forschungsteam bereits seit 1994 in regelmäßigen Abständen Studien zu dieser Frage durchgeführt. Dabei ging es darum, den Einfluss des Zufalls bei einem Torerfolg zu messen. Das überraschende Ergebnis: Die Zufallsquote liegt seinen Untersuchungen zufolge immer zwischen 40 und 50 Prozent. Der Faktor Zufall entscheidet also in nicht unerheblichem Maße über den Ausgang eines Spiels. Doch welche Merkmale sind es, die ein Spiel so unberechenbar machen, dem Matchplan ein Schnippchen schlagen und Tore außerplanmäßig entstehen lassen?
Merkmale zufälliger Gegentore
Professor Martin Lames hat mit seinem Team sechs Merkmale ausgemacht, bei denen der Zufall bei Gegentoren eine entscheidende Rolle spielt:
a) Der Ball wird abgefälscht
Eine für den Torhüter gewohnte Spielsituation: Ein Knäuel von Spieler befindet sich innerhalb des Strafraumes vor seinem Tor, sowohl Spieler des Gegners als auch Mitspieler. Besonders groß ist die Spielertraube bei Standardsituationen wie Freistößen oder Eckbällen, wo sich meist zwischen 10 und 15 Spieler vor seinem Tor tummeln.

Aber auch in vielen anderen Spielsituationen steht ein Pulk von Spielern in seinem Blickfeld. Keine einfache Situation für einen Torhüter. Zum einen muss er den Ball und die Aktionen des Ballführenden im Auge behalten, um im Falle eines Schusses gewappnet zu sein. Zum anderen kann der Schuss jederzeit von einem der Mitspieler oder gegnerischen Spieler abgelenkt werden, so dass sich die Flugrichtung noch im letzten Moment verändern kann. Und das geschieht nicht selten. Der Faktor Zufall kann also jederzeit Einfluss auf die Aktion nehmen und den Ball unerreichbar für den Torhüter machen.
b) Eigentor
Auch Eigentore beeinflussen das Spielergebnis durch Zufall. Eine typische Spielsituation: Ein gegnerischer Angreifer passt den Ball vor der Grundlinie vor das Tor. Um den Querpass zu verhindern, grätscht ein Abwehrspieler dazwischen. Da er in der Regel nur dazwischenwirft und vom Passgeber angeschossen wird, kann der Abwehrspieler den Ball nicht kontrolliert klären. Wenn es der Zufall will, landet der Ball vom Fuß des Mitspielers im eigenen Tor.

c) Tore aus großer Distanz
Besonders häufig werden in der ARD-Sportschau bei der Wahl zum "Tor des Monats" Schüsse aus größerer Entfernung ausgewählt, die als strammer Distanzschüsse im Torwinkel einschlagen. Wir Zuschauer sind fasziniert von der Stärke und Präzision des Schusses. Aber kein Schütze wird für sich in Anspruch nehmen, dass er den Ball exakt dort unterbringen wollte. "Ich habe einfach mal draufgehalten", lautet oft die Aussage des Schützen. Der Zufall musste ihm zu Hilfe kommen. Vor kurzem äußerte sich Georg Schwarzenbeck, der vor 50 Jahren im Finale 1974 gegen Atletico Madrid Bayern München mit seinem Gewaltschuss in der 120. Minute zum Europapokalsieger der Landesmeister machte, in einem Interview im "kicker" zu seinem Hammer: "So einen Schuss kann man nicht üben, der ist gefühlt durch 50 Beine gegangen." Treffender lässt sich der Einfluss des Zufalls auf den Distanzschuss nicht zum Ausdruck bringen.
d) Vom Wetter und Flatterbällen
Manchmal sind es auch sogenannte Flatterbälle, die die Flugbahn des Balles im letzten Moment noch einmal entscheidend verändern, so dass der Keeper durch die plötzliche Veränderung nicht mehr genug Handfläche hinter den Ball bringt. Aber auch entsprechende Wetterverhältnisse können den Ausgang eines Spieles beeinflussen. An Tagen mit starken Windbewegungen verändern Windböen oder Windstöße die Flugbahn des Balles und machen den Ball durch ein plötzliche Richtungsveränderung für den Keeper unerreichbar. Ebenso kann bei starkem Regen eine Pfütze, in der der Ball aufspringt, zu einem Zufallstor führen.

e) Nach Abpraller
Tore als Zufallsprodukt entstehen aber auch nach Abpraller. Wenn z.B. der Torhüter einen Schuss nicht zur Seite, sondern nach vorne abgewehrt hat, bleibt der Ball unkontrolliert im Spiel. Der Ausgang der Spielszene bleibt ergebnisoffen, je nachdem, wem der Ball zufällig vor die Füße fällt. Wieder hat der Zufall einen entscheidenden Einfluss auf den Torerfolg.
f) Vom Pfosten oder Latte ins Tor
In noch einer Spielsituation spielt der Zufall häufig eine entscheidende Rolle. Denn selbst bei hoher Zielgenauigkeit kann kein Schütze auf der Welt den Ball exakt dort im Tor unterbringen, wohin er ihn schießen will. Er braucht die Hilfe des Zufalls insofern, dass ein Schuss nicht am Pfosten oder an der Torlatte landet, sondern wenige Zentimeter neben dem Pfosten oder unter der Torlatte einschlägt und von dort ins Tor springt. Wieder braucht der Schütze die Unterstützung des Zufalls.

Spielen bei so viel Zufall die fußballerische Qualität und die Taktik eines Teams also gar keine endscheidende Rolle? „Natürlich sollen die taktischen Pläne weiterhin möglichst perfekt sein und auf alternative Spielverläufe gut vorbereiten, aber die entscheidenden Spielsituationen sind letztlich vom Zufall bestimmt. Ob ein Tor fällt oder nicht, liegt häufig nicht in der Kontrolle der Spieler,“ meint Martin Lames. Die Erkenntnis daraus muss also heißen, dass sich eine Mannschaft „so viele Torchancen wie möglich erarbeiten“ soll, um darauf zu hoffen, dass die ein oder andere Chance dann zum Erfolg führt. Denn wenn es eine Mannschaft schafft, durch eine dominante Spielweise den Gegner vom eigenen Tor wegzuhalten, haben sie zumindest den Zufallsfaktor in Grenzen gehalten. „Wir können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein Spiel zu gewinnen. Aber das Spielglück lässt sich nicht beeinflussen“, bringt es Frank Wormuth, von 2008 bis 2018 Leiter der Fußballlehrerausbildung beim DFB, auf den Punkt.