Bereits im vergangenen Sommer hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann in der Vorbereitung auf die EM im Trainingslager in Herzogenaurach vier Torhüter zur Verfügung. Der Nürnberger Keeper Jan Reichert unterstützte das DFB-Team als Trainingstorwart, obwohl der Keeper nicht zum offiziellen Kader gehörte. Warum gerade Nürnbergs junger Schlussmann? Durch die Nähe Nürnbergs zum adidas Campus in Herzogenaurach war er auf Abruf verfügbar, wenn er gebraucht wurde.
Für die abschließenden WM-Qualifikationsspiele am kommenden Freitag in Luxemburg und am Montag in Leipzig gegen die Slowakei ging Julian Nagelsmann noch einen Schritt weiter. Er nominierte direkt vier Torhüter in den offiziellen Kader. Neben Oliver Baumann, Alexander Nübel und Finn Dahmen stieß auch Noah Atubolu planmäßig zum DFB-Team. Auf der Pressekonferenz am Montag erklärte der Bundestrainer, warum er mehr Keeper als früher üblich in den Kader berufen hat. Für seine Maßnahme nannte er mehrere Gründe.
Vier Torhüter – was sind die Vorteile?
Die Entscheidung, in der Vorbereitung auf die beiden Länderspiele auf vier Torhüter zu setzen, hat laut Nagelsmann vor allem zwei Gründe.
a) Entlastung
Ein wichtiger Aspekt, warum Nagelsmann mit seinem Team vier Torhüter benannt hat, ist die „Trainingssteuerung“ und damit die Vorbeugung von Verletzungen. Es gebe nämlich „viele Spieler, die nach dem Training noch schießen und einen Rhythmus kriegen wollen“, so Nagelsmann. Speziell für diese Schussfolgen kann ein zusätzlicher Torwart im Kader für Entlassung sorgen. Denn mit vier Torhütern sei sichergestellt, „dass es nicht immer nur derselbe Torhüter ist, der im Tor steht, wenn wir nach dem Training noch Abschlüsse machen.“ Ein weiterer Vorteil ist, dass ein Torhüter, der durch zusätzliche Spiele z.B. in der Champions League oder im DFB-Pokal belastet ist, zur Regeneration und Schonung vorübergehend aus dem Trainingsbetrieb herausgenommen werden kann, ohne dass dadurch die übliche Trainingsabläufe mit der Mannschaft unterbrochen oder gestört werden.
b) Mehr Spielformen in kleineren Teams
Ein weiterer Vorteil bei vier Torhütern ist, dass sich damit mehr Spielformen in Kleingruppen auf zwei Spielfelder umsetzen lassen, wodurch die Trainingsintensität erhöht und die individuelle Positionsschulung geschult werden kann. So ist z.B. ein Training mit vier Mannschaften in der Kleingruppe mit wenigen Spielern und womöglich noch in Turnierform effektiver als ein Training mit drei Mannschaften, in dem eine Mannschaft immer pausieren muss. Auch die Anzahl an Ballkontakten als auch die Anzahl an Torabschlüssen ist sowohl bei den Spielern als auch den Torhütern ist in diesen Trainingsformen höher und intensiver.
c) Zeichen der Wertschätzung
Neben den Vorteilen für die Trainingseinheiten ist die Nominierung eines weiteren Torhüters nach Meinung des Bundestrainers auch ein Zeichen der Wertschätzung. Dass diese Wertschätzung einen unterschiedlichen Hintergrund haben kann, machte er an den Beispielen Noah Atubolu und Finn Dahmen deutlich. Freiburgs Schlussmann, der im Oktober verletzungsbedingt aus dem Trainingscamp abreisen musste, habe es „verdient, nochmal dabei zu sein und sich zu zeigen“, erklärte Nagelsmann.
Anders gelagert ist die Situation bei Finn Dahmen vom FC Augsburg. Trotz des aktuellen Formtiefs der Fuggerstädter in der Bundesliga gehe es darum, den Deutsch-Engländer „nicht direkt fallen zu lassen.“ Der 27-Jährige hatte nach Meinung von Nagelsmann zwar „ein, zwei Spiele dabei, wo es nicht optimal lief“, sei angesichts der miserablen Gesamtsituation seines Klubs aber „nicht alleinverantwortlich.“ Nagelsmann sprach explizit die deutliche 0:6-Niederlage des FCA gegen RB Leipzig vor rund zwei Wochen an. Bei dieser Niederlage habe Dahmen auch „zwei Dinger gefangen, die er vielleicht nicht fangen muss“, analysierte der Bundestrainer. Aber der ehemalige Mainzer habe „über zwei Jahre super stabile Leistungen gezeigt“. Deshalb will der Bundestrainer trotz des momentanen Formtiefs an dem ehemaligen U21-Nationaltorwart festhalten und ihm den Rücken stärken.
d) Kennenlernen der Abläufe im DFB-Team
Auf einen Aspekt ging der Bundestrainer nicht ein, der aber nicht unbedeutend ist. Speziell für junge Torhüter bietet die zusätzliche Nominierung die Möglichkeit, ohne Druck in die Arbeitsweise und Atmosphäre der Nationalmannschaft hineinzuschnuppern und so frühzeitig ein Umfeld kennen zu lernen, das sie bei möglichen zukünftigen Nominierungen bereits kennen.
e) Trainerteam bekommt Eindrücke
Aber auch für das Trainerteam bietet sich die Option, das Verhalten eines Torhüters in einer neuen Gruppe einschätzen zu lernen. Denn speziell in der Vorbereitung auf ein großes Turnier, die oft mehrere Wochen dauert, spielt es keine unwesentliche Rolle, ob sich ein Torhüter oder Spieler in eine Gruppe einfügen kann und ein positives Sozialverhalten zeigt oder ein eher schlechtes Klima innerhalb der Mannschaft erzeugt, wenn er z.B. nicht zum Einsatz kommt, nicht die gewünschte Rolle spielt oder seine persönlichen Erwartungen nicht eintreten.
Das nächste große Turnier ist die im kommenden Sommer stattfindende Fußball-WM in den USA, Kanada und Mexiko. Noch ist offen, ob Marc-Andre ter Stegen, die designierte Nummer eins der deutschen Nationalmannschaft, überhaupt dem Kader angehören wird. Denn der FC Barcelona setzt seit seiner monatelangen Verletzung nicht mehr auf den Deutschen, sondern vertraut mit Joan Garcia zukünftig auf einen jüngeren Torhüter. Der Bundestrainer stellt dem 33-jährigen Barca-Keeper nur eine Rückkehr ins DFB-Team bei Spielzeiten im Verein in Aussicht. Keine ganz einfache Situation für Marc-Andre ter Stegen, denn er muss in der Transferperiode im Winter einen Verein finden, bei dem er regelmäßig zum Einsatz kommt, und mit entsprechenden Leistungen beweisen, dass er immer noch der beste deutsche Torhüter ist. Hinter ter Stegen und seinem Vertreter Oliver Baumann kämpfen derzeit drei weitere Keeper um einen Kaderplatz. Nübel, Atubolu und Dahmen können sich daher schon jetzt im Kreise der DFB-Auswahl zeigen. Ihre Rollen sind noch nicht in Stein gemeißelt: Sollte ter Stegen einen Rückschlag erleiden, wenig spielen oder Baumann in eine Formkrise geraten, könnten die aktuellen Ersatzkeeper wichtig werden.

