Über 13 Jahre stand Manuel Neuer als Nummer eins im Tor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und war zudem seit 2016 ihr Kapitän. Ohne Zweifel hat er sich in dieser Zeit große Verdienste um den deutschen Fußball erworben. Sein schlimmer Ski-Unfall mit der damit verbundenen monatelangen Pause verändert aber seine Position im DFB-Team. Seither werden die Karten bei der Nationalelf neu gemischt. Sicherlich, bis zur Heim-EM 2024 wäre für Neuer nach der angepeilten Rückkehr noch rund ein Jahr Zeit, um wieder in Form zu kommen. Ausgeschlossen ist aber nicht, dass ihm bis dahin Andere längst den Rang abgelaufen haben.
Zu diesen möglichen Kandidaten gehört zweifelsohne und als allererstes Marc-André ter Stegen. Der Torwart des FC Barcelona ist seit Monaten in absoluter Topform. Ab sofort steht er für Deutschland im Tor, und das für mindestens fünf Spiele. Aber auch wenn Neuer wieder fit ist, soll er kein automatisches Rückkehrrecht auf die gewohnte Stammposition im DFB-Tor haben.
Der erste Schritt zu einem möglichen Wechsel auf der Torhüterposition ist bereits vollzogen, denn Neuer hat seine Trikotnummer 1 an Marc-Andre ter Stegen (30) verloren. Ob das bereits ein erster Fingerzeig in Richtung Zukunft im deutschen Nationalteam ist, bleibt offen. Die neue Nummer 1 im DFB-Team gab sich in der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag dazu ganz locker: „Ich wurde gefragt, ob ich sie haben will. Ich habe okay gesagt. Am Ende ist es immer leistungsbezogen. Für mich persönlich habe ich mein Ziel immer klar formuliert und verfolgt, damit es auch darauf auch hinausläuft.“ Der in Spanien vielgerühmte Stammkeeper des FC Barcelona ist ab sofort auch in der Nationalelf die von Bundestrainer Hansi Flick amtlich bestätigte erste Wahl. Natürlich will ter Stegen „seine Chance nutzen“. Am Ende zähle die Leistung, und die „möchte er zeigen. Unabhängig von der Rückennummer“.
Ter Stegen: „Ich spiele anders als Neuer“
Kein Torhüter ist wie der andere. Jeder Torhüter verkörpert seinen eigenen Spielstil mit eigenen Stärken und Schwächen. Das ist auch bei Manuel Neuer und Marc-Andre ter Stegen nicht anders, wie der Barca-Keeper in der Pressekonferenz bestätigte. „Jeder Torwart hat seinen eigenen Stil. Die Abwehr muss sich ein bisschen umstellen und dementsprechend werde ich auch anders spielen als Manu. Ob besser oder schlechter, müssen andere beantworten.“ Auf die Details, die sein Torwartspiel von dem Manuel Neuers unterscheiden, ging er nicht näher ein. Er könne aber „Facetten einbringen, die uns guttun“, und dem deutschen Spiel "seinen ganz eigenen Stempel" aufdrücken.
Welche Facetten könnte er meinen?
Bereits vor Jahren wurde Marc-Andre ter Stegen wegen seiner großartigen Fähigkeiten im Umgang mit dem Fuß als "Messi in Handschuhen" getauft. Sein Torwartspiel passt optimal zum als Tiki-Taka bezeichneten Spielstil der Katalanen, der charakterisiert wird durch ein Kurzpassspiel und einen hohen Ballbesitzanteil der angreifenden Mannschaft. Dieser Ballbesitz wird erreicht, indem sich fast die gesamte Mannschaft fortwährend in Bewegung befindet und den Ball durch ihre Reihen zirkulieren lässt. Ter Stegens überragende fußballerischen Fertigkeiten machen ihn in diesem Spielsystem zu einem ständigen Anspielanker für seine Mitspieler, wenn sie unter Druck geraten. Er selbst bleibt auch bei einem schnellen Anlaufen der gegnerischen Stürmer stets ruhig und kontrolliert.
Weil die Gegner inzwischen taktische Antworten auf das Barca-Spiel gefunden haben, hat ter Stegen das Spiel von Barca noch um weitere Nuancen erweitert. Er beschränkt sich nicht mehr nur auf seine Rolle als Überzahlspieler oder elfter Feldspieler, sondern hat inzwischen auch die Aufgabe als Spielgestalter im Barca-Team übernommen. Wie kaum ein zweiter Torhüter auf der Welt ist er in der Lage, offene Räume und eigene Überzahl sofort zu erkennen und den Ball mit einer außergewöhnlichen Präzision genau in den anvisierten Raum zu spielen, und das in alle Bereiche des Spielfeldes. Auch lange Flugbälle über die hoch stehende gegnerische Abwehrkette sind inzwischen keine Seltenheit mehr in Barcelona. Mit öffnenden Pässen gibt er oft das Startsignal für eigene Angriffe. Damit macht er das Spiel seines Teams vielfältiger und weniger ausrechenbar. Möglicherweise können genau diese "Facetten" seines Spiels auch der deutschen Nationalmannschaft zu neuen Impulsen verhelfen.
Die spanische Zeitung „Sport“ lobte der Barca-Keeper in der vergangenen Woche vor dem El Clásico zwischen Barca und Real Madrid in den höchsten Tönen und bezeichnete ihn als den besten Torwart Europas, und dies sei "keine Meinung", sondern mit Daten zu belegen. Beim Spiel gestern Abend gegen Peru konnte Marc-Andre ter Stegen seine auch in der Torverteidigung zweifellos vorhandenen Qualitäten wegen fehlender Gelegenheiten kaum unter Beweis stellen. Dafür waren die peruanischen Angreifer nicht torgefährlich genug. Sein außergewöhnliches Können im Umgang mit dem Ball war hingegen unschwer zu erkennen. Ob bei der Verarbeitung von Rückpässen, im Überzahlspiel mit seinen Mitspielern oder bei Pässen auf seine Mannschaftskameraden über unterschiedliche Distanzen fand er immer die richtige Lösung. Ob im schnellen Kurzpassspiel, bei Bällen auf die Halbfeldspieler, bei Chips auf die Außenspieler oder langen Bällen auf Zielspieler, ter Stegen brachte immer den Pass an den Mann. Er liebt das Spiel von hinten heraus und versucht stets, bereits im Spielaufbau die richtigen Lösungen zu finden. Weltweit gibt es kaum einen Torhüter, der über diese hohe Qualität im Aufbauspiel verfügt wie der Ex-Gladbacher. Mit diesen Fähigkeiten kann er zukünftig auch das Spiel der deutschen Nationalmannschaft bereichern und variantenreicher gestalten.
Beim Lehrgang im September möchte Manuel Neuer, dann 37 Jahre alt, wieder in der Lage sein, um den Stammplatz im deutschen Tor mitzubieten. Wie sich Bundestrainer Hansi Flick dann entscheiden wird, hängt wohl maßgeblich von den Leistungen ab, die ter Stegen in den kommenden Spielen abliefern kann. Flick hat jedenfalls bereits versichert, eine automatische Rückkehr des langjährigen Throninhabers werde es nicht geben, die Leistung werde entscheiden: "Es ist nichts in Stein gemeißelt."
Sollte ter Stegen seine momentan überragenden Leistungen weiter bestätigen können, wird es für den dann 37-jährigen fünfmaligen Welttorhüter Manuel Neuer schwer werden, noch einmal zwischen die Pfosten der Nationalmannschaft zurückzukehren. Ein gutes Jahr vor dem Turnier in Deutschland deutet alles darauf hin, dass Marc-André ter Stegen selbst mit entsprechende Leistungen darüber entscheiden wird, ob er zum ersten Mal in seiner Karriere die Nummer eins bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft sein wird. Der gebürtige Mönchengladbacher, der am 30. April 31 Jahre alt wird, hat es erstmals selbst in Hand und Fuß, mit Leistung seinen neuen Status als Nummer eins zu festigen.