Es war die 9. Minute im Champions-League-Spiel zwischen Galatasaray Istanbul und Bayern München. Gerade erst hatten die Münchener im Hexenkessel von Istanbul den 1:0-Führungstreffer erzielt. Nur eine Minute später nimmt Kerem Aktürkoğlu nach einem Flankenball von rechts etwa 10 m vor dem Tor aus fast zentraler Position den Ball artistisch volley aus der Luft und befördert ihn platziert ins lange Eck. Die Galatasaray-Fans hatten schon den Torschrei auf den Lippen. Aber sie hatten die Rechnung ohne Sven Ulreich gemacht. Der Neuer-Vertreter reagiert glänzend und hechtet nach einem Auftaktschritt nach innen explosiv zum Ball und lenkt ihn - trotz verdeckte Sicht – mit einer Glanzparade mit einer Hand um den Pfosten. Schwer zu sagen, wie das Spiel in diesem aufgeheizten Kessel verlaufen wäre, wäre Ulreich diese starke Parade nicht gelungen.
Trotzdem könnte das die vorerst letzte Glanztat des 35-jährigen Schlussmannes in einem Champions-League-Spiel gewesen sein. Denn die Rückkehr von Nationaltorhüter Manuel Neuer steht unmittelbar bevor. Daraus, dass er liebend gern weiter zwischen den Pfosten des Bayern-Tores stehen würde, machte Ulreich keinen Hehl nach dem 3:1-Sieg über Galatasaray: „Natürlich freut man sich immer, wenn man spielt. Aber", so bekannte er im gleichen Atemzug, „ich kenne meine Rolle beim FC Bayern."
Rentenlaufbahn mit 26?

Für genau diese Rolle hatte sich Sven Ulreich vor ziemlich genau acht Jahren entschieden. 2015 wechselte er mit der Gewissheit, überwiegend Bankdrücker zu sein, zum FC Bayern. Neuer war gerade zum dritten Mal hintereinander zum Welttorhüter gewählt worden. Die Chance auf viele Spieleinsätze war also nicht wirklich rosig. Deshalb konnten viele Experten seinerzeit den Wechsel des damaligen Stammtorhüters des VfB Stuttgart zum FC Bayern nachvollziehen. Schließlich war Ulreich zu diesem Zeitpunkt erst 26 Jahre alt und befand sich noch lange nicht im Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Rente mit 26! - das war damals noch eine der freundlicheren Bemerkungen. Warum wollte der junge Keeper die besten Jahre als Fußballer für einen Platz auf der Ersatzbank verschenken?
Die Rolle als Ersatztorhüter bleibt in der Regel meist älteren Torhüter vorbehalten, die sich bereits im Vorruhestand befinden, oder jungen, ambitionierten Keepern, für die sich auf dem Weg nach oben eine Chance öffnen könnte. Insofern war sein Entschluss für viele nur schwer nachvollziehbar. Die wenigsten kannten den wirklichen Grund für seine Entscheidung. Der 26-Jährige spürte zum damaligen Zeitpunkt, dass sein Ausbildungsverein im Hintergrund an der Verpflichtung eines neuen Torhüters arbeitete. Daher erschien ihm die Rolle als Ersatztorhüter auf der Bayern-Bank zurecht lukrativer als die auf der VfB-Bank.
Stets ein großartiger Neuer-Vertreter

Wahrscheinlich hat Ulreich diesen Schritt zum FC Bayern nie bereut. Seine Rolle füllte er jedenfalls zur Zufriedenheit aller aus. Einerseits war er mit genügend Ehrgeiz ausgestattet, Neuer zu Topleistungen zu pushen, andererseits war er aber nicht ehrgeizig genug, um nach guten Leistungen Ansprüche auf mehr zu stellen und damit Unruhe im Team zu verbreiten. Noch ein weiteres Qualitätsmerkmal eines guten Ersatzkeepers brachte er mit, nämlich sofort und ohne Vorbereitung größtmögliche Topleistungen abzurufen, wenn er gebraucht wurde. Schon als sich Neuer im April 2017 einen Mittelfußbruch zugezogen hatte und für einige Monate ausfiel, vertrat Ulreich den fünfmaligen Welttorhüter so hervorragend, dass er mit einer Berufung in die Nationalmannschaft belohnt wurde, wenn auch nur in seiner bereits gewohnten Rolle auf der Bank. „Sven hat sich diese Berufung verdient. Wenn er in dieser Saison gebraucht wurde, war er da und hat beim FC Bayern Top-Leistungen gezeigt. Das ist eine große Qualität", lobte der damalige Bundestorwarttrainer Andreas Köpke den gebürtigen Schorndorfer.
Als im vergangenen Winter Manuel Neuer nach dem Skiunfall mit Beinbruch lange ausfiel, traute ihm diese Rolle niemand so richtig zu. Stattdessen wurden Namen gehandelt wie David de Gea, David Raya, Bono, Alexander Nübel oder der letztlich verpflichtete Yann Sommer. Nachdem der Schweizer Nationaltorhüter im Sommer zu Inter Mailand weiterzog, war die ewige Nummer zwei aber sofort wieder zur Stelle und performte wieder auf demselben Level wie Jahre zuvor, begleitet von viel Anerkennung durch Medien und Fußballfans.
Wie geht es weiter mit ihm?
Wenn Manuel Neuer nun vermutlich bald auf den Platz zurückkehrt, wird Ulreich wie selbstverständlich dasselbe tun wieder immer. Er wird auf seinen gewohnten Posten zurückkehren und wieder in seinem Schattendasein verschwinden, loyal, freundlich, mit guter Trainingseinstellung und als leistungsfördernder Bestandteil innerhalb der Torwartgruppe, so wie immer. Ulreich ist nun 35 Jahre alt. Angesprochen auf seinen im Sommer auslaufenden Vertrag bei den Bayern sagte Ulreich nach dem Spiel: „Bis dahin fließt noch viel Wasser die Isar runter. In den nächsten Monaten wird es sicher ein Gespräch geben, wie der Verein plant, wie es mit mir aussieht.“ Es wäre dem sympathischen Keeper zu gönnen, dass seine stetige Loyalität in all den Jahren zum Verein noch einmal von Vereinsseite mit einem Vertragsangebot gewürdigt wird.
Vielleicht bietet sich ihm aber auch die Chance, noch einmal ins Rampenlicht zurückzukehren. Denn noch weiß niemand, wie fit und stark Manuel Neuer nach dieser langwierigen Verletzung und einer langen Spielpause in den Spielbetrieb zurückkehren wird. Und niemand kann die Gefahr einer erneuten Verletzung des Keepers im mit 37 Jahren bereits fortgeschrittenen Torwartalter ausschließen. Eines ist aber gewiss. Ulreich wäre wieder zur Stelle, auch wenn seine empathische Art dieses Szenario sicherlich nicht herbeiwünschen würde.