Etwas überraschend war die Entscheidung von Bundestrainer Julian Nagelsmann schon, statt der bisher üblichen drei Torhüter, die in der Vergangenheit für große Turniere nominiert wurden, für das EM-Aufgebot für die am 14. Juni beginnenden Europameisterschaft vier Torhüter zu benennen. Schließlich gab es in den vielen EM- oder WM-Turnieren noch nie die Notwendigkeit, auf einen vierten Torhüter zurückgreifen zu müssen. Ganz im Gegenteil: Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen kam der dritte Torhüter bei einer EM oder WM überhaupt zu einem Spieleinsatz. Seine Rolle war stets klar definiert. Er sollte im Training Gas geben, seine Kollegen bestmöglich bei ihrer Arbeit unterstützen, ansonsten ruhig bleiben und keine Ansprüche auf Spieleinsätze stellen. Warum geht Deutschland bei der EM 2024 also mit einem Torhüter-Quartett ins Rennen?
Die Überraschung war umso größer, als nicht etwa Kevin Trapp von Eintracht Frankfurt, der in den vergangenen Jahren immer nominiert war, diese zusätzliche Position einnahm, sondern mit Alexander Nübel vom VfB Stuttgart ein Neuling als vierter Torwart neben Manuel Neuer, Marc-André ter Stegen und Oliver Baumann in das deutsche EM-Aufgebot berufen wurde. Der Faktor Glück kam Nübel allerdings zugute, weil Bernd Leno, der eigentlich für den Kader vorgesehen war, wegen einer Schulterverletzung ausfiel. Die Freude über seine Nominierung war Nübel deutlich anzumerken. Das EM-Turnier in Deutschland bedeute ihm "extrem viel" und sei etwas "Überragendes", ließ er wissen.
Welchen Sinn machen vier Torhüter?

Geplant hatte der Bundestrainer offenbar schon länger mit vier Keepern. In der Medienrunde erklärte der Coach seine Beweggründe. „Weil ich es einfach als wichtig ansehe im Training, gerade wenn du einen individuellen Block hast nach den Trainingseinheiten, einfach auch Torhüter im Tor zu haben, wenn Abschlüsse trainiert werden. Wir brauchen eine gute Anzahl, um die Belastung zu steuern. Jeder, der schon mal im Tor war, weiß, wenn da auf einmal 20 Spieler 400 Schüsse abfeuern, ist das relativ belastend. Und wir haben ja schon eine enge Taktung der Spiele, deswegen werden vier Torhüter mitgehen.“ Intensität ist inzwischen im Spiel und damit auch im Training ein wichtiger Faktor. Eine Trainingseinheit ist nur dann effektiv, wenn die Belastung und die Intensität im richtigen Verhältnis gesteuert werden. Die Spieler müssen in den Übungen und Spielformen einerseits gefordert, dürfen andererseits aber auch nicht überfordert werden. Mit vier Keepern kann das Trainerteam das Training effektiver und besser planen und die Belastung leichter steuern.

Auch wenn Nagelsmann diesen Aspekt selbst nicht angesprochen hat, dürfte die Nominierung Nübels auch perspektivisch von Bedeutung sein. Ein Blick auf die Torhüter-Konstellation beim DFB-Team der letzten Jahre offenbart, dass sich mit Neuer (38), ter Stegen (32), Leno (32), Baumann (33) und Trapp (33) alle Torhüter wohl eher in der letzten Phase ihre Karriere befinden, so dass Gedanken der DFB-Verantwortlichen um die Zukunft zwischen den Pfosten der Nationalmannschaft berechtigt sind. Einer dieser möglichen Kandidaten und Perspektivspieler für die WM 2026 könnte Alexander Nübel sein. Nicht ohne Grund galt der ehemaliger U21-Nationaltorhüter, der seit 2020 bei den Bayern unter Vertrag steht, lange Zeit als der legitime Nachfolger Neuers, sowohl bei den Bayern, als auch in der Nationalmannschaft. Was der Bundestrainer an ihm schätzt? „Er spielt eine sehr stabile Saison, verkörpert sportlich genau das, was wir auf der Torhüterposition brauchen“, begründete Nagelsmann die Entscheidung. Und fügte hinzu: „Er ist außergewöhnlich gut mit dem Fuß, ist sehr, sehr gut in der Raum- und der Torverteidigung und passt sehr, sehr gut zu dem Torwartspiel, das wir uns vorstellen.“ Kein Zweifel, Alexander Nübel hat sich mit seinen guten Leistungen in der abgelaufenen Saison seine Nominierung verdient und gezeigt, dass er das Talent dazu hat, in der Nationalelf der Zukunft eine Rolle zu spielen. Mit der Berufung in das EM-Aufgebot erhält Nübel erste Eindrücke in die Abläufe bei der Nationalmannschaft, was ihm die Integration ins Team zukünftig erleichtern und ihm Sicherheit geben wird.