Seit über 10 Jahren arbeitet Patrick Foletti als Torwarttrainer für die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft und betreut damit u.a. klangvolle Namen wie Yann Sommer oder Gregor Kobel. Zugleich ist er für die Torhüterausbildung beim Schweizer Fußballverband zuständig. Seit diesem Jahr ist er zudem Mitglied der Torwart Experte Gruppe der UEFA. Ohne Zweifel gehört Patrick Foletti zu den interessantesten Torwarttrainern in Europa. Zuvor sammelte er als Torwarttrainer Erfahrungen bei den Schweizer Erstligisten Grasshopper Club Zürich und dem FC Luzern. Seine Profikarriere begann er in seiner Heimatstadt Mendrisio. Weitere Stationen waren in der Folgezeit Grashopper Club Zürich, dem FC Schaffhausen, dem FC Luzern, dem englischen Club Derby County und dem SC Kriens.
Goalguard.de unterhielt sich mit dem Torwarttrainer der Schweizer Nationalmannschaft über die Torwartsituation im Schweizer Nationalteam, über die Verteidigung von Standardsituationen, über die Positionierung von Torhütern in bestimmten Situationen sowie über neue Entwicklungen im Torwartspiel und Torwarttraining.
Artur Stopper Patrick, Yann Sommer hat vor kurzem gegen den FC Bayern München mit 19 Paraden eine überragende Partie abgeliefert. Um den Leistungszustand deiner Nummer eins musst du dir für die in Kürze stattfindende WM wohl keine Gedanken machen …
Patrick Foletti Nein, überhaupt nicht. Aber das ist nicht nur wegen der unglaublichen Leistung von Yann gegen Bayern München, sondern er ist bereits seit längerer Zeit in einer Top-Verfassung, sowohl mental, körperlich, technisch oder taktisch. Es macht unglaublich viel Freude, ihm zuzuschauen.
Artur Stopper Yann Sommer gehört seit Jahren zu den besten Torhütern in der Bundesliga. Welche Eigenschaften braucht ein Keeper, dass er diese große Qualität über Jahre hinweg halten kann?
Patrick Foletti Dahinter steckt viel Arbeit. Yann ist für mich das perfekte Beispiel für Professionalität. Yann hat immer noch diesen Hunger, sich weiter zu entwickeln, weiter an Details zu arbeiten, um noch besser zu werden, obwohl er schon viel erreicht hat. Das ist die Grundlage seines Erfolgs. Ein Grundtalent muss immer vorhanden sein, aber noch entscheidender ist eine gute Einstellung. Ich kenne viel talentierte Torhüter, die es trotz ihres vorhandenen Talents nie in den Profibereich geschafft haben.
Artur Stopper Immer wieder ist die Größe von Torhütern ein Thema. Kann man spätestens seit Yann Sommer diese Diskussion endgültig beenden?
Patrick Foletti (schmunzelt) Bei mir gab es dieses Thema nie. Aber es ist ein Thema, das immer wieder diskutiert wird. Spannend ist, dass viele Experten und Torwarttrainer grundsätzlich der Meinung sind, dass Größe keine Rolle spielt. Die Realität hingegen ist eine andere. Für mich ist Größe bei einem Torhüter nur ein Parameter von mehreren. Um auf diesem Level performen zu können, braucht man einige Parameter. Das Puzzle aus diesen Parametern muss stimmen. Wenn ein Parameter, wie z.B. die Größe, nur durchschnittlich ist, muss man in anderen Bereichen gut oder überdurchschnittlich sein, was bei Yann absolut der Fall ist.
Artur Stopper Mit Gregor Kobel wächst ein überaus talentierter Torhüter für die Schweiz nach. Was fehlt ihm noch zur Klasse von Yann Sommer?
Patrick Foletti Zuerst einmal muss ich festhalten, das wir mit Sommer, Köhn, Mwogo, Omlin, Kobel und von Ballmoos sechs absolute Toptorhüter haben. Yann hat im Vergleich auf internationaler Ebene noch mehr Erfahrung als alle anderen, und diese spielt bei Torhütern eine große Rolle.
Artur Stopper Der Aufgabenbereich des Torhüters wird immer vielfältiger. Nach der Aufgabe als elfter Feldspieler und der Spieleröffnung gewinnt immer mehr das Coaching des Torhüters an Bedeutung. Für welche Coachingaufgaben ist der Torhüter deiner Meinung nach im Spiel zuständig?
Patrick Foletti Das Coaching des Torhüters ist das A und O für die Restverteidigung oder präventive Verteidigung, wie wir in der Schweiz sagen, denn bei einer guten Vororganisation ist man bei einem Ballverlust bestens organisiert. Zudem ist Coaching wichtig bei der Verteidigung in der Box. Um diese Fähigkeit beim Torhüter zu entwickeln, muss man ihn bereits in der Jugend noch mehr in integrierte Übungsformen involvieren und bei ihm noch mehr das Bewusstsein und Verständnis für den taktischen Bereich schulen. Manchmal, besonders in Nachwuchsakademien, höre ich Trainer äußern „Aber er sagt nichts“. Oft ist der Grund dafür nicht, dass der Torhüter besonders introvertiert ist und deshalb nichts sagt, sondern häufig, dass er nicht weiß, was er sagen soll. In der Block- oder Teamtaktik fehlen Torhütern oft die nötigen Informationen, um bestimmte Situationen zu erkennen und dementsprechend zu coachen. Diese Aufgabe ist sehr anspruchsvoll, weil ein Torhüter gleichzeitig mehrere Aspekte im Auge behalten muss. Er muss zunächst das Verhalten des Mitspielers wahrnehmen, muss ihn dann coachen und zugleich seine eigenen Optionen erkennen und ausführen. Das ist eine verdammt schwierige Aufgabe.
Artur Stopper Immer mehr Vereine arbeiten inzwischen mit zwei Trainern im Torwarttraining. Welche Vorteile siehst du bei dieser Arbeitsweise?
Patrick Foletti Es gibt viele Vorteile. Entscheidend ist bei dieser Arbeitsweise aber, dass vorab ein paar Regeln aufgestellt und einige Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Ich kann das mal an meiner Situation anschaulich machen. Mein Assistent ist Budi, ein Freund, den ich schon lange kenne. Die Rollen sind bei uns klar definiert. Über die Planung, die Steuerung und die Inhalte entscheide ich. Budi ist eher meine Ballmaschine, was nicht abwertend klingen soll. Die Tatsache, dass ich einen Assistenten auf dem Platz habe, schafft mir viele Optionen, die allein nicht möglich wären, z.B. in der Gestaltung der Übung, in der Wahl und Durchführung der Übung, und, was noch spannender ist, im Rollenspiel. Ich spreche mit ihm vor dem Training ab, was ich von ihm in der Beziehung mit dem Torhüter erwarte. Ich warne ihn z.B., wenn ich irgendetwas Spezielles im Bereich Coaching vorhabe. Wenn ich in einer Trainingseinheit mit meiner Körpersprache und meinem Coaching Druck erzeugen will, er aber die Situation nicht gleich ernst nimmt, funktioniert das nicht. Entscheidende Voraussetzungen sind also, dass beide Torwarttrainer dieselbe Sprache sprechen, eine klare Rollenverteilung herrscht und klar definiert ist, wer der Leader ist. Die Arbeit mit zwei Torwarttrainern ist eine Chance, zugleich aber auch eine Gefahr, auf jeden Fall aber mega spannend.
Artur Stopper Worin siehst du die Gefahren?
Patrick Foletti Es gibt die absurdesten Situationen, z.B. dass ein Torwarttrainer seit Jahren im Verein ist, der neu verpflichtete Torhüter aber unbedingt seinen Torwarttrainer mitbringen will. Bei dieser Konstellation besteht immer die Gefahr, dass ein Teil der Torwartgruppe nach links und der andere nach rechts geht. Eine andere schwierige Konstellation könnte sein, dass der zweite Torwarttrainer sich bei den Keepern einschmeichelt und auf seine Chance lauert, wenn der Stuhl des bisherigen Torwarttrainer wackelt. Solche Konstellationen gehen nicht, da muss man schon genau aufpassen.
Artur Stopper Zunehmend sieht man im Warmup vor dem Spiel kognitive Elemente zur mentalen Aktivierung des Torhüters. Für wie wichtig hältst du diese Aufwärmform?
Patrick Foletti Ich halte sie für sehr wichtig. Aber um die Aktivierung vor dem Spiel anzuwenden, muss sie bereits einige Zeit vorher im Training eingeübt worden sein. Zudem muss sie der Torhüter wollen. Wir Torwarttrainer können vielleicht wissenschaftlich darlegen, warum dies und jenes sinnvoll oder notwendig ist. Entscheidend aber ist, dass sich der Torhüter dabei wohl fühlt. Ich sage meinen Torhütern immer, dass der Spieltag der einzige Tag ist, an dem sie selbst entscheiden können, was gemacht wird. Selbst wenn ich absolut davon überzeugt bin, dass ein kognitiver Reiz, in welcher Form auch immer, hilfreich sein kann, der Torhüter aber nicht überzeugt ist, lasse ich die Finger davon. Ich selbst habe die Aktivierung auch schon kurz vor dem Spiel probiert, führe sie aber in der Regel am Morgen des Spieltages durch, unabhängig vom Zeitpunkt des Spiels. Wenn ich aber eines Tages einen Torhüter habe, der sagt, „ich mag den Scheiß nicht am Morgen vor dem Spiel“, dann lasse ich es.
Artur Stopper Ein Fußballspiel wird für die Spieler taktisch immer anspruchsvoller. Während früher Mannschaften meist ähnliche Spielsysteme bevorzugten, gibt es heutzutage viele Varianten. Inwiefern muss der Torhüter sein Torwartspiel an diesen Veränderungen anpassen?
Patrick Foletti Die wichtige Frage ist, wer sich anpassen soll. Wir gehen davon aus, dass alle zusammen das Tor verteidigen wollen, nicht nur der Torhüter. Es ist also immer ein Zusammenspiel mit der Mannschaft. Optimal ist, wenn die veränderten Prinzipien oder das Spielsystem 1zu1 mit der Spielweise des Torhüters übereinstimmen. Es könnte aber auch sein, dass ein bestimmter Torwarttyp nicht mehr zu den Spielideen des Trainers passt. Für den Torwarttrainer stellt sich nun die Frage, ob er seinen Torhüter an das jeweilige Spielsystem anpassen soll oder er eine Lösung mit dem Cheftrainer findet, die auch dem Torhüter gerecht wird. Wenn der Torhüter z.B. bevorzugt tief steht, die Mannschaft aber hoch presst, muss das Trainerteam entscheiden, ob der Torhüter zukünftig 20 m höher stehen soll oder die Verteidigungslinie sich weiter nach hinten fallen lässt. Entscheidend ist eine gemeinsame Sprache. Der Torhüter muss wissen, was sein Block macht, und die Mannschaft muss wissen, welcher Typ Torhüter hinten steht. Des Öfteren ist das aber nicht der Fall.
Artur Stopper Bei der WM 2018 fielen ca. 42 % aller Tore nach Standardsituationen. Ein enorm hoher Wert, denn in der Bundesliga oder Premier League liegt er bei ca. 20 %. Jeder Standard ist anders. Wie kann man den Torhüter trotzdem auf diese Standards effektiver vorbereiten und so viele Gegentore vermeiden?
Patrick Foletti Es gibt zwei Wege. Das Wichtigste zuerst: In unseren Spielphilosophie ist eine Standardsituation immer mit einer Spielsituation verbunden, je nachdem, wie die Standardsituation ausgeführt wird. Es kann ein hoher Ball, eine Flanke oder ein Eckball mit einem hohen Ball, ein Direktschuss oder ein Distanzschuss sein. Wir kategorisieren die verschiedenen Standardsituationen nach Spielsituationen. Anhand dieser Analysen entstehen Prinzipien, die ich im Training zu simulieren versuche. Das ist der Weg auf dem Platz. Des Weiteren analysieren wir das Verhalten des Gegners X über Videobilder und stellen das von uns erkannte Verhalten des Gegners im Training nach. Auf diese Weise bereiten wir den Torhüter auf Standardsituationen vor, die kommen könnten. Die Videoanalyse ist heutzutage ein Tool, ohne das es nicht mehr geht. Aber so arbeiten heutzutage alle.
Artur Stopper Auch unter Torwarttrainern gibt es immer wieder Meinungsverschiedenheiten darüber, wann ein Torhüter vorrücken oder eher tief bleiben soll. Welche Signale gibt es für dich, die einem Torhüter zeigen, dass er kommen soll?
Patrick Foletti Bereits vor 50 Jahren war Johan Cruyff der Meinung, dass Fußball nur eine Frage von Raum und Zeit sei, auch wenn er diese Aussage sicherlich nicht auf Torhüter bezogen hatte. Aber im Grunde genommen ist das Torwartspiel immer das Lesen verschiedener Bezugspunkte, die der Torhüter in kürzester Zeit anhand von Raum und Zeit erfassen muss. Es gibt mehrere Aspekte, auf die er achten muss. Er hat den eigenen Bezug von Raum und Zeit zum Gegner. Das ist die einfachste Variante. Der Torhüter muss erkennen, ob er es schafft, zum Ball zu kommen. Dann geht er, ansonsten bleibt er. Meistens ist die Situation aber nicht so statisch, sondern jeder gespielte Pass hat eine andere Geschwindigkeit, einen unterschiedlichen Passwinkel und Laufweg. Mit Hilfe dieser verschiedenen Informationen muss der Torhüter entscheiden, ob er Druck machen kann und deshalb vorrückt und eher passiv bleibt. Es gibt kein Rezept für das richtige Verhalten. Es gibt aber Prinzipien, die sich aus diesen Referenzen ergeben. Aber letztendlich muss ein Torhüter sein Verhalten ausrichten an den Faktoren Raum und Zeit. In unserem Verständnis gibt es vier Verhaltensweisen: Erstens „go“, ich gehe, zweitens „catch“, ich kann die Aktion unterbinden, drittens „stay“, ich bleibe, und viertens „back“, in gewinne durch meine Rückwärtsbewegung Zeit und Raum. Anhand dieser Philosophie bauen wir unser Training auf. Der Weg ist, das Bewusstsein und das Spielverständnis der Torhüter dafür zu schulen, warum sie etwas richtig oder falsch machen, und vor allem bei einer falschen Entscheidung selbst erklären können, warum ein anderer Entschluss besser gewesen wäre.
Artur Stopper Eine WM ist immer auch ein Marktplatz neuer Ideen. In welchen Bereichen erwartest du kreative Ideen im Torwartspiel bei der kommenden WM?
Patrick Foletti Ich habe das Gefühl, dass im Moment viel passiert ist, vor allem durch die neue Abstoßregel. Denn die Tatsache, dass diese Regel es Mannschaften nun erlaubt, einen Abstoß auch innerhalb des Strafraums anzunehmen und der Torhüter bei der Spieleröffnung nicht mehr den Ball aus dem Strafraum spielen muss, ermöglicht einige neue Ideen. Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich nicht das Gefühl, dass für die kommende WM viel Neues oder völlig Überraschendes zu erwarten ist. Nach meinen Erfahrungen von bisher drei Weltmeisterschaften glaube ich aber, dass nach der WM in der Analyse des Torwartspiels trotzdem wieder neue Tendenzen zu erkennen sein werden.
Artur Stopper In welcher Richtung siehst du zukünftig die größten Entwicklungschancen bei Torhütern?
Patrick Foletti Ich bin fest überzeugt, dass wir im Torwarttraining in eine andere Dimension kommen müssen. Das hat mit zwei Faktoren zu tun. Zum einen wird die Spielintelligenz - neben den Faktoren Mentalität, Persönlichkeit und der Verwaltung der Emotionen -zukünftig eine noch größere Rolle spielen. Zum anderen kann der Torhüter die Verteidigung des Tores im Zusammenspiel mit seinen Mitspielern noch verbessern. Dazu wird der Torhüter zukünftig noch mehr ins Mannschaftstraining integriert werden müssen. Bisher findet das Torwarttraining oft noch isoliert statt, mit wenig Bindung zur Mannschaft. Sobald die Torhüter dann ins Mannschaftstraining integriert werden, gibt der Torwarttrainer die Verantwortung an den Cheftrainer oder die Co-Trainer ab. Der nächste Schritt muss daher sein, dass der Cheftrainer, die Assistenztrainer und der Torwarttrainer ihre Zusammenarbeit verstärken, um gemeinsam bessere und klarere Prinzipien und Lösungen zu erarbeiten. Auf diese Weise kann das Team in der Offensive vielleicht noch einen besseren Spielaufbau erreichen, aber vor allem in der Defensive durch eine bessere Abstimmung Tore verhindern. Wenn diese Zusammenarbeit im Trainingsbetrieb nicht erarbeitet und trainiert wird, kann sie nicht gut gelingen. Ich bin überzeugt, dass in diesen beiden Bereichen noch ein großes Entwicklungspotenzial vorhanden ist.
Artur Stopper Patrick, ich bedanke mich dafür, dass du Zeit für uns gefunden hast, und wünsche dir weiterhin viel Erfolg bei deiner Arbeit.