Was sich bereits seit Monaten abzeichnete, ist nun offiziell. Thibaut Courtois, einer der weltbesten Torhüter der letzten Jahre, wird nicht dem EM-Kader der belgischen Nationalmannschaft angehören. Bei der gestrigen Bekanntgabe der EM-Teilnehmer durch Belgiens deutscher Nationaltrainer Domenico Tedesco fehlte sein Name.
Als Grund für die Nicht-Berücksichtigung nannte der deutsche Tedesco die langwierige Verletzung des ehemaligen Welttorhüters. Anfang August letzten Jahres hatte sich der 32-jährige Schlussmann von Real Madrid kurz vor Saisonbeginn einen Kreuzbandriss zugezogen. Die Bestürzung in Spaniens Hauptstadt war groß, hatte der Belgier doch viele Spiele zugunsten Reals entschieden, zuletzt beim Gewinn der Champions League. Eine lange Ausfallzeit war die Folge. Nach neunmonatiger Verletzungspause feierte Courtois am 2. Mai beim 3:0-Sieg gegen Cadiz sein Comeback im Trikot von Real Madrid. Drei weitere Spiele in zehn Tagen folgten, in denen der Welttorhüter von 2018 und 2022 durchaus zu überzeugen wusste. Seine Verletzung schien jedenfalls verheilt. Trotzdem wurde er nun von Domenico Tedesco nicht berücksichtigt. „Es ist etwas anderes, während eines Turniers alle drei, alle vier Spiele zu spielen“, erklärte der Trainer den Verzicht auf den 102-fachen belgischen Nationaltorhüter.
Eklat nach „fehlender Wertschätzung“

Wahrscheinlich beinhaltet diese Aussage nur die halbe Wahrheit. Denn möglicherweise wäre Courtois auch ohne diese Verletzung von Tedesco nicht in den EM-Kader berufen worden. Die beiden hatten sich nämlich im Juni 2023 nach dem Eklat, der auf ein Länderspiel gegen Österreich (1:1) in Brüssel folgte, zerstritten. Courtois hatte schmollend das Nationalteam verlassen und zudem die wenige Tage später stattfindende Partie in Estland (3:0) versäumt. Der Grund: Er durfte gegen Österreich nicht Kapitän sein. Kevin de Bruyne, der eigentliche Kapitän des Teams, war verletzungsbedingt ausgefallen, weshalb die Kapitänsbinde vakant war. Courtois war auf die Binde erpicht, weil die Partie gegen Österreich sein 102. Länderspiel war, zudem das erste auf belgischem Boden nach seinem Eintritt in den "Klub der Hunderter". Stattdessen überreichte Tedesco die Binde an Stürmer Romelu Lukaku, der zum einen mit 118 Länderspielen mehr Länderspiele aufzuweisen hatte als Courtois und zum anderen so etwas wie der „heimliche Chef“ in der belgischen Nationalmannschaft war. Hinzu kam, dass das Länderspiel kurz nach dem Champions-League-Finale zwischen Inter Mailand und Manchester City (0:1) stattfand, bei dem Belgiens Inter-Stürmer Romelu Lukaku sehr unglücklich agiert hatte. Mit der Spielführerbinde wollte Tedesco dem bulligen Stürmer sein Vertrauen zum Ausdruck bringen. Courtois hingegen war verschnupft und deutete diese Entscheidung als fehlendes „Zeichen der Wertschätzung“ ihm gegenüber. Deshalb ließ er das Nationalteam im Anschluss einfach im Stich.
Auch wenn Courtois später einsah, dass seine Fahnenflucht im Juni ein Fehler gewesen sei und daher das Team und Fans um Vergebung bat, sparte er Tedesco bei der Bitte um Entschuldigung aus. Ganz im Gegenteil: Er setzte sogar eitle Spitzen gegen den Nationalcoach: „Er hat mich angegriffen“, klagte Courtois und sprach von einem "Vertrauensbruch“, der sich nur schwer kitten lasse: "Wo soll da noch ein Mittelweg sein?“ Besonders der vermeintliche „Angriff“ auf ihn hat einen süffisanten Hintergrund. Tedesco hatte sich geweigert, im Nachhinein eine Verletzung Courtois vorzutäuschen und damit dessen wenig mannschaftsdienliches Verhalten unter der Decke zu halten. Stattdessen machte er den Vorfall öffentlich.
Reaktion seiner Mitspieler
Nicht nur beim belgischen Verband stieß Courtois Verhalten auf wenig Gegenliebe. Auch einige seiner Mannschaftskameraden zeigten wenig Verständnis. Die Reaktion des Keepers sei eine „Enttäuschung" gewesen, sagte Yannick Carrasco (Al-Shabab) schon im Juni, Timothy Castagne (FC Fulham) erklärte im Oktober, Courtois werde wissen, ob er zurückkehre oder nicht. Ihm sei es einerlei, denn Belgien habe genug gute Torhüter. Nach Sehnsucht auf eine Rückkehr des Ausnahmekeepers hören sich diese Aussagen nicht an.
Kreuzbandriss führt zum EM-Verzicht

Auch Domenico Tedesco dürfte insgeheim aufgeatmet haben, als Thibaut Courtois bereits in Dezember des vergangenen Jahres den Verzicht auf eine EM-Teilnahme bekannt gab, um sich von seinem im Sommer erlittenen Kreuzbandriss vollständig zu erholen. „Ich denke, es ist besser, diese Klarheit sofort in die Nationalmannschaft zu bringen. Ich werde nicht zu 80 Prozent im Tor stehen, wenn wir andere gute Torhüter haben.“ Er stelle seine persönliche Ehre zurück und werde im Juni nur ein weiterer Unterstützer der Roten Teufel sein. „Ich hoffe, dass sie die EM 2024 gewinnen werden“, so Courtois. Ob seine Aussagen wirklich so gemeint waren oder ob er sich insgeheim ein Buhlen des Verbandes und des Trainerteams um seine Person erhoffte, bleibt sein Geheimnis. Mit seiner Bekanntgabe kam er jedenfalls einer möglichen Nichtberücksichtigung zuvor.
Ein Teil der Fans wird es bedauern, der andere Teil sich darüber freuen, dass das Theater um Belgiens Nationaltorhüter nun ein Ende hat. Tedesco wird sich zufrieden zurücklehnen, denn mit dieser Entscheidung fällt ein potenzieller Konfliktherd für ihn weg. Um die Besetzung zwischen den Pfosten des belgischen Tores muss er sich beileibe keine Gedanken machen, denn mit Koen Casteels (VfL Wolfsburg) hat er einen exzellenten Ersatzmann in der Hinterhand. Des Weiteren stehen mit Thomas Kaminski (Luton Town) und Matz Sels (Nottingham Forest) weitere gute Keeper für einen Einsatz bereit.
Ist sein Fehlen ein Verlust?
Wie sich das Fehlen dieses Ausnahmekönners auf das Abschneiden der Mannschaft auswirken wird, wird sich schon in Kürze zeigen. Aber es gibt viele Beispiele in der langen Geschichte großer Turniere, dass nicht immer die Summe der besten Fußballer zum Gewinn des Turniers führte, sondern eher der besondere Charakter eines Teams über Erfolg oder Misserfolg entschied.

Nachdenkens wert sind auf jeden Fall die Erfahrungen und Gedanken des ehemaligen deutschen Nationaltrainers Berti Vogts zu Hierarchien in einer Mannschaft, die er vor kurzem in einem Interview mit der Zeitschrift „11 Freunde“ geäußert hatte. Seine Aussagen geben einen Einblick, welche Stimmungen vermeintliche Top-Stars manchmal in Mannschaften erzeugen können. Mit einer spielerisch schwächeren Mannschaft als in den Jahren zuvor gewann Vogts den EM-Titel 1996. Das hatte seiner Meinung nach Gründe. Vor der EM hatte er sich dazu entschieden, den bisherigen Leitwolf Lothar Matthäus nicht mehr ins Team zu berufen. Zum einen war er nach Vogts Meinung bereits über seinen Leistungszenit, zum anderen hatte er nicht mehr das Ansehen in der Mannschaft wie die Jahre zuvor. „Er war ein herausragender Spieler, hatte aber große Probleme, sich ins Team einzufügen“, stellte der Ex-Bundestrainer fest. Auf die Journalistenfrage, wer nach Matthäus der neue Star sei, antwortete Vogts im Vorfeld der EM: „Die Mannschaft ist der Star“, was sich im Nachhinein als richtig herausstellen sollte. Denn durch die Herausnahme von Matthäus hatte sich „die Hierarchie ganz neu sortiert und sich plötzlich Spieler in den Vordergrund gespielt, die vorher gar nicht zur Geltung gekommen waren.“ Stattdessen seien Spieler auf dem Platz gestanden, die ein „hohes Verantwortungsgefühl hatten“ und nie vergaßen, „sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen“. Die Erkenntnis daraus: Mentalität schlägt Klasse!
Von außen betrachtet ist es schwierig, die Rolle von Courtois in der belgischen Nationalmannschaft einzuschätzen. Denn welchen Einfluss der Ausnahme-Torhüter auf die Stimmung oder die Hierarchie im Team hatte, wissen nur die Mannschaft und die Verantwortlichen der Roten Teufel. Die Belgier haben aber genug Spieler von internationaler Klasse, um den Ausfall von Thibaut Courtois kompensieren und bei der EM eine gute Rolle spielen zu können.