Seit 1978 wird die U21-Fußball-Europameisterschaft ausgetragen. Die Erfolgsgeschichte der deutschen U21-Nationalmannschaften in all den Jahren ist schnell dargestellt. Einige Male hatte sich die Mannschaft nicht einmal fürs Endturnier qualifiziert oder schied bereits frühzeitig im Turnierverlauf aus. Nur dreimal errang das Team den ersehnten Titel: 2009, 2017 und 2021.
Beim Titelgewinn 2017 stand ein Torhüter zwischen den Pfosten des deutschen Tores, der mit überzeugenden Leistungen maßgeblich zu diesem Erfolg beitrug. Sein Name: Julian Pollersbeck. Im Halbfinalspiel gegen England hielt Pollersbeck im Elfmeterschießen nach Ablauf der regulären Spielzeit und einer Verlängerung zwei Strafstöße und trug damit entscheidend zum Einzug des deutschen Teams in das Finale des Turniers bei. Nach dem Finaltriumph über Spanien wurde er zum besten Torhüter des Turniers gewählt. Nicht wenige sahen ihn bereits auf den Spuren von Manuel Neuer auf dem Weg zur A-Nationalmannschaft. Doch es kam anders…
Nach drei erfolglosen Jahren in der französischen Liga Ligue 1 beim Spitzenklub Olympique Lyon ist das ehemals hoffnungsvollste Torwarttalent nach Deutschland zurückgekehrt. Zur kommenden Saison gehört er dem Kader des Zweitligisten 1. FC Magdeburg an, bei dem Christian Tietz, sein ehemaliger Förderer aus HSV-Zeiten, als Cheftrainer arbeitet. Ob Pollersbeck unter seiner Regie wieder auf die Erfolgsspur zurückfinden kann?
Der rasante Aufstieg des jungen Keepers
Eigentlich hatte der junge Pollersbeck in seiner sportlichen Vita zunächst wenig vorzuweisen, was auf ein Ausnahmetalent hinwies. Ausgebildet beim damaligen Drittligisten Wacker Burghausen, stand er ab der Saison 2011/12 sowohl im Kader der U19-Mannschaft in der zweitklassigen A-Junioren-Bayernliga als auch der zweiten Herrenmannschaft in der sechstklassigen Landesliga Bayern Süd. 2012/13 absolvierte er für die aufgestiegene zweite Mannschaft sieben Spiele in der Bayernliga Süd, für die erste Mannschaft saß er in der 3. Liga bei drei Spielen auf der Ersatzbank.
Sein sportlicher Aufstieg begann mit dem Wechsel zum 1. FC Kaiserslautern. Zur Saison 2014/15 rückte er in den Profikader auf und erhielt im November 2014 einen Profivertrag. Zunächst nur Ersatztorhüter profitierte er bei seinem Profidebüt am 4. Spieltag der Saison 2016/17 bei der 0:2-Auswärtsniederlage gegen den SV Sandhausen vom Missgeschick des damaligen FCK-Stammtorhüter Andre Weis, der in der 74. Minute nach einer Roten Karte des Feldes verwiesen wurde. Da Pollersbeck in der Folgezeit mit guten Leistungen aufwartete, blieb er auch nach Ablauf der Sperre seinen Konkurrenten im Tor der Pfälzer.
Seine guten Leistungen beim 1. FC Kaiserslautern blieben Stefan Kuntz, dem damaligen Auswahltrainer der U21-Nationalmannschaft, nicht verborgen. Deshalb berief er Pollersbeck nach seinem Debüt im Nationaltrikot am 10. November auch in den Kader für die U21-Europameisterschaft 2017 und ernannte ihn vor Marvin Schwäbe (heute 1. FC Köln) und Odisseas Vlachodimos (heute Benfica Lissabon) zum Stammtorhüter. Sein Aufstieg zu einem der besten Keeper in Deutschland schien nur noch eine Frage der Zeit.
Zwischen Hoffnung und Abstieg
Obwohl Pollersbecks bei den Pfälzern noch einen Vertrag bis 2020 hatte, wechselte er zur Saison 2017/18 in die Bundesliga zum Hamburger SV, bei dem er einen Vierjahresvertrag bis zum 30. Juni 2021 unterschrieb. Allerdings verlief die Saisonvorbereitung nicht wie gewünscht. Nachdem er sich in Testspielen einige unsichere Auftritte erlaubt hatte, entschied sich der damalige HSV-Trainer Markus Gisdol schließlich für seinen Konkurrenten Christian Mathenia als „Nummer 1“. Spielpraxis sammelte Pollersbeck vor allem im Regionalligateam der Hanseaten. Kurzzeitig verlor er sogar seinen Status als Nummer 2 aufgrund von athletischen Defiziten und schlechten Trainingsleistungen an Tom Mickel. Nach der Wintervorbereitung gelang ihm die Rückkehr als „Nummer 1“. Aber nicht lange, auch unter dem neuen Trainer Bernd Hollerbach verlor er seinen Stammplatz erneut an Mathenia. Nachdem mit Christian Titz der dritte Trainer in dieser Spielzeit die Mannschaft übernommen hatte, wurde Pollersbeck ab dem 27. Spieltag wieder zum Stammtorhüter. Doch auch er konnte den Abstieg des HSV in die zweite Bundesliga nicht verhindern. Trotz des Abstiegs erhielt Pollersbeck ausgerechnet vom großen Oliver Kahn im Jahr 2018 den Ritterschlag. Als einen der besten Torhüter der Geschichte und als das "vielversprechendste Torwarttalent" des Landes bezeichnete ihn der „Titan“ damals.
Auch in der folgenden Saison 2018/19 blieb Pollersbeck unter Titz und dessen Nachfolger Hannes Wolf Stammtorhüter und absolvierte 31 Zweitligaspiele. Der erhoffte Erfolg - sprich Aufstieg - blieb aber wieder aus. Der HSV belegte den 4. Platz und verpasste damit den direkten Wiederaufstieg.
Da die Hanseaten für die Folgesaison 2019/20 unter dem neuen Cheftrainer Dieter Hecking mit Daniel Heuer Fernandes bereits eine neue Nummer eins verpflichtet hatten, legten die Verantwortlichen Pollersbeck nahe, sich einen neuen Verein zu suchen, wenn er spielen wolle. „Pollersbeck ist nicht abgeschrieben, aber wir haben die Reihenfolge nach den Leistungen in der Vorbereitung festgelegt“, betonte HSV-Trainer Dieter Hecking nach der Sommervorbereitung. Erst nachdem Heuer Fernandes nicht langfristig überzeugen konnte, kehrte Pollersbeck am 29. Spieltag in das HSV-Tor zurück und absolvierte die letzten 6 Ligaspiele. Wie bereits im Vorjahr schloss der HSV die Saison wieder auf dem 4. Platz ab und verpasste den Wiederaufstieg.
Auch Heckings Nachfolger Daniel Thioune setzte nicht auf Pollersbeck, sondern degradierte ihn sogar wieder zur Nummer drei. Nun hatte der Keeper die Zeichen der Zeit erkannt und wechselte Mitte September 2020 in die französische Ligue 1 zu Olympique Lyon. Der Rest ist bekannt. Julian Pollersbeck konnte sich weder bei Olympique Lyon noch bei seinem Leihverein FC Lorient als Stammtorhüter durchsetzen.
Die Gründe für sein Scheitern
Die Frage bleibt, warum einer der talentiertesten Torhüter nach seinem Wechsel zum HSV in den etwas mehr als drei Spielzeiten bei den Hanseaten sein Potenzial nie abrufen konnte. Die Gründe sind wohl vielschichtig.
Ein wiederkehrender Vorwurf gegenüber dem Keeper betrifft die fehlende Einstellung zu seinem Beruf. Besonders Gerry Ehrmann, der Pollersbeck von 2013 bis 2017 in Kaiserslautern trainierte und ihn zum U21-Nationaltorhüter machte, zeigte viel Verständnis für HSV-Cheftrainer Markus Gisdol, als dieser Pollersbeck zur Nummer drei degradierte. „Ich habe kein Mitleid mit Julian, weil ich ihn kenne. Er ist nicht grundlos dritter Torwart beim HSV, da kommt Hochmut vor dem Fall“, so Ehrmann, und fuhr fort: „Wenn Julian richtig hart trainiert, dann ist das alles in Ordnung, von der Körpergröße her und fußballerisch. Aber man muss ihm zwei Mal die Woche den Arsch aufreißen, weil er von sich aus nichts macht." Deutlicher kann man seine fehlende professionelle Einstellung nicht beschreiben.
Auch zu Pollersbecks Kritikfähigkeit, Arbeitseinstellung und Freizeitgestaltung hatte Ehrmann eine klare Meinung: „Er denkt, er habe es nicht nötig. Er ist zu bequem und hat sehr wenig Eigenantrieb. Julian fehlt es an Selbstkritik. Du musst ihn zu seinem Glück zwingen. Ich habe gehört, dass er in Hamburg um die Häuser ziehen soll. Wenn das bei mir passiert wäre, dann hätte er am nächsten Tag so trainiert, dass er dafür zu müde gewesen wäre.“
Zudem brachte er die HSV-Fans mit einigen Aktivitäten auf seinen Sozial-Media-Kanälen gegen sich auf. Denn trotz schwieriger sportlicher Situation postete er Bilder nachts beim Italiener mit einer Pizza, nach einer Niederlage beim Friseur oder anderen lustigen Bildern auf seinen Kanälen. Die Anhänger hatten dafür wenig Verständnis, zumal er bereits vor seinem Einstieg beim HSV mit Bildern vom Ballermann sein Image als Partyheld befeuert hatte. Was bei sportlichem Erfolg mit einem leichten Kopfschütteln weggelächelt wird, verkehrt sich in sportlich schwierigen Zeiten leicht ins Gegenteil. Mit seinem unprofessionellen Verhalten hatten die Fans jedenfalls in Pollersbeck schnell einen Sündenbock gefunden, zumal der Dreimillionen-Einkauf auch sportlich die Erwartungen nicht erfüllen konnte und der Verein erneut den erhofften Aufstieg verspielte. Auch wenn Julian Pollersbeck die Einstellung zu seinem Beruf im Laufe seiner Zeit beim HSV zum Positiven veränderte, sein angekratztes Image konnte er letztlich nicht mehr korrigieren.
Allein die Schuld bei ihm zu suchen, wäre aber sicherlich zu kurz gedacht. Möglicherweise war der junge Keeper einfach überfordert bei seiner neuen Station beim Traditionsklub Hamburger SV. Gerade mal eine Saison beim damaligen Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern im Tor gestanden, war er über Nacht zum Millionär und gehypten Torhütern geworden. Jede noch so kleine Regung wurde beobachtet. Auf diese veränderte Situation hatte den jungen und unerfahrenen Keeper wohl niemand vorbereitet. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Nachwuchstalenten war Pollersbeck nie in einem der Nachwuchsleistungszentren, in denen Talente im Umgang mit dem Medienrummel, dem psychologischen Druck als Nummer eins oder dem angemessenen Auftreten in der Öffentlichkeit geschult werden. Stattdessen erlag der mit einem fürstlichen Salär ausgestattete junge Torhüter den Verlockungen der Großstadt und sonnte sich in dem neuen VIP-Status. Pollersbecks sportliches Talent war deutlich größer als sein Wissen über das, was da auf ihn zukam. Daran ist er letztlich auch gescheitert.
Pollersbeck kann man sicherlich einiges vorwerfen, bei einer genaueren Betrachtung kann man aber auch die Verantwortlichen des HSV nicht ganz aus der Schusslinie nehmen. Denn ein umsichtig geführter Verein müsste wissen, dass die Verpflichtung eines jungen und unerfahrenen Spielers mehr beinhaltet, als dem abgebenden Verein eine hohe Ablösesumme sowie dem Keeper dessen monatlich fürstliches Salär zu überweisen. Zweifelsohne hat es der Verein verpasst, ihm die Fürsorge zu geben, beim HSV erwachsen zu werden und seine Leistung zu maximieren. Er hätte ihm vermitteln und ihn darauf vorbereiten müssen, dass in einem Traditionsklub wie dem HSV ein besonderes Klima herrscht und der Fokus der Öffentlichkeit anders und weit mehr auf ihn gerichtet ist als an seiner früheren Station 1. FC Kaiserslautern.
Nun kehrt Julian Pollersbeck also nach Deutschland zurück. Nach dem Dreijahresvertrag bei Olympique Lyon, mit dem er nach nur sechs Einsätzen sportlich nicht glücklich wurde, bietet sich für den 28-jährigen Schlussmann nun beim Zweitligisten 1. FC Magdeburg unter Christian Tietz die Chance, noch einmal Fuß zu fassen. Man darf gespannt sein, ob und wie viel er aus dem Fehlern der Vergangenheit gelernt hat, ob er die neue Chance nutzen und ob er sein zweifellos vorhandenes Potenzial noch einmal abrufen kann.