Im Halbfinale gegen Barcelona war Yann Sommer der gefeierte Held. Die Gazetten und Medien überschlugen sich beim 4:3-Erfolg von Inter Mailand gegen den FC Barcelona. „Sensationell“, „Grandios“ oder „Sommer bringt Inter ins Finale“ lauteten die Schlagzeilen, mit denen die Pressevertreter die Leistung von Yann Sommer nach dem Sieg würdigten. Mit mehreren Weltklasseparaden hatte der Schweizer Nationaltorhüter entscheidend zum Einzug seiner Mannschaft ins Champions-League-Finale beigetragen und wurde folgerichtig zum "Man of the Match" gewählt. Vom Kicker erhielt er glatt die Note 1,0.
Im Finale gegen Paris St. Germain hingegen konnte einem der frühere Schweizer Nationaltorhüter leidtun. Gleich fünfmal musste er das Spielgerät aus dem Netz befördern. PSG siegte mit 5:0! Es war der höchste Sieg in der Finalgeschichte der Champions League. Anders als in den Halbfinalspielen hexte Sommer seinen Klub nicht mit Traumparaden zum Erfolg. Statt dem erhofften Gewinn der CL wurde es für ihn und sein Team „ein bitterer Abend“, wie der 36-Jährige hinterher selbst resümierte.
Der Grund, warum Yann Sommer im Finale seine grandiosen Leistungen aus den Halbfinalspielen nicht wiederholen konnte, war, dass die Verantwortlichen von PSG die Spielweise von Inter gut analysiert hatten und deshalb mit dem richtigen Gegenmittel und geschickten taktischen Schachzügen das gewohnte Spiel der Mailänder unterbinden konnten. Wie sie das gemacht haben? Zusammen mit Markus Krauss, U-19-Torwarttrainer beim VfB Stuttgart, haben wir das Torwartspiel Yann Sommers in den Halbfinalspielen gegen den FC Barcelona und im Finale gegen Paris St. Germain untersucht und herausgearbeitet, warum Inter Mailand sein gewohntes Spielsystem im Finale nicht umsetzen konnte. Im ersten Teil des Artikels werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie PSG den gewohnten Spielaufbau der Mailänder verhinderte.
"Spielmacher" Yann Sommer
Ein wichtiger Grund für das Erreichen des Finales von Inter Mailand waren Yann Sommers glänzenden Fähigkeiten im Spielaufbau. Wie die folgende Grafik zeigt, beherrscht Yann Sommer verschiedene Facetten im Aufbauspiel, die er je nach Verhalten des Gegners anwendet. Am häufigsten fungiert er als Anspielstation für Rückpässe seiner Mitspieler, sobald sie unter Gegnerdruck geraten. Um dem Pressing zu entkommen, verlagert er oft das Spiel mit zwei Ballkontakten auf die andere Spielfeldseite (Zone A). Zeitgleich mit dem Rückpass fordert er optisch mit seitlich ausgestreckten Armen ein, wie sich seine Mitspieler postieren sollen. Mit seiner guten und sich mehrfach wiederholenden Vororientierung nimmt er bereits im Vorfeld die Positionen seiner Mitspieler und die Anlaufwege der gegnerischen Spieler wahr und findet deshalb meistens die optimale Anspielstation für die bestmögliche Spielfortsetzung, sei es über die breit stehenden Innenverteidiger oder die einlaufende Sechs.

Wenn er erkennt, dass die beiden seitlich von ihm postierten Innenverteidiger angelaufen werden, wählt er einen Chip in eine der Zonen, die in der Grafik als "B" gekennzeichnet sind. Erkennt er jedoch, dass die gegnerische Mannschaft insgesamt nach vorne schiebt, die Abwehrkette hoch steht oder er in Bedrängnis gerät, schlägt Sommer den Ball lang nach vorne auf einen Zielspieler (Zone C), meistens auf Thuram. Hat er jedoch genügend Zeit, baut er das Inter-Spiel gerne in der Torwartkette auf.
Sommers überragende Rolle im Spielaufbau seines Teams beschrieb vor kurzem Lucien Favre, sein Trainer in Gladbacher Zeiten. Er bezeichnete Sommer in der Gazzetta dello Sport als heimlichen Spielmacher des Teams: "Sommer ist Inters Nummer 10. Er wurde schon immer unterschätzt." 51 Ballkontakte im Spiel sprechen eine deutliche Sprache, wie stark der Schweizer ins Spiel seiner Mannschaft eingebunden ist. Seine überragenden Fähigkeiten im Spielaufbau konnte Yann Sommer aber im Finale zu wenig einsetzen.
Luis Enrique entschlüsselt Inter-Spiel
Dass Yann Sommer seine zuletzt starken Leistungen im Finale gegen Paris St. Germain nicht wiederholen konnte, lag wohl vor allem daran, dass PSG-Cheftrainer Luis Enrique mit seinem Trainerteam die Spielweise und vor allem die wichtige Rolle von Yann Sommer im Spielaufbau der Lombarden genau analysiert hatte und seiner Mannschaft entsprechende Gegenmittel an die Hand gab.
Die Lösung: Ständiger Druck auf Sommer
Über die gesamten 90 Minuten sprintete ein Spieler – meist Sturmspitze Dembélé (siehe Bild) – Sommer nach einem Rückpass konsequent und schnell an. Dadurch war Sommer gezwungen, den Ball noch schneller kontrollieren zu müssen und noch schneller eine Entscheidung zu treffen, wo er den Ball als nächstes hinspielen wollte.

Durch die ständige Mann-gegen-Mann Verteidigung über den gesamten Platz und das mutige Durchschieben auf die Außenverteidiger von Inter fand Yann Sommer kaum Anspielmöglichkeiten. Dadurch war das Inter-Aufbauspiel unterbunden, ein Spieleröffnung wie gewohnt war kaum möglich.Der hohe Druck und das konsequente Mann-gegen-Mann Verteidigen von Paris hielten über das gesamte Spiel an.
Auch mögliche Seitenverlagerungen, die Sommer in den Partien zuvor regelmäßig spielte, waren kaum möglich, weil die Außenverteidiger sofort bei der Ballannahme unter Druck gesetzt wurden. PSG gab Inter also nie die Möglichkeit, ihren gewohnten Spielaufbau durchzuziehen. Auch die Eröffnung über die entgegenkommenden 6er war nur selten gegeben, obwohl Sommer diese Anspieloption immer wieder ins Auge fasste. Durch das konsequenzte Pressing der Franzosen geriet Yann Sommer einige Male so unter Druck, dass er den Ball einfach wegschlug, weil er keine freie Anspielstation auf dem Spielfeld finden konnte (siehe Grafik).

Fazit: Durch das hohe und intensive Pressing von PSG konnte Yann Sommer den Ball nicht wie gewohnt kontrolliert auf seine Mitspieler spielen und so das Aufbauspiel von Inter wie gewohnt ankurbeln. Durch den hohen Druck ließen seine Abspiele des Öfteren zu wünschen übrig, etliche landeten im Aus oder beim Gegner. Zudem fand er durch das hohe Pressing im Kombination mit der Mann-gegen-Mann Verteidigung kaum Anspielmöglichkeiten auf seine Teamkollegen.
Das hohe und ständige Pressing von PSG ließ Inter bei der Angriffsauslösung ratlos aussehen. Paris Saint-Germain dominierte Inter Mailand nach Belieben und nahm die Italiener regelrecht auseinander. Entsprechend enttäuscht zeigte sich Yann Sommer nach dem Spiel: "Wir sind sehr enttäuscht mit dem Ergebnis, aber auch der Art, wie wir gespielt haben. Wir haben es nicht geschafft, das umzusetzen, was wir uns vorgenommen hatten." Die Art und Weise sei einfach enttäuschend. Auch wenn Sommer im Finale nicht an die gewohnten Leistungen anknüpfen konnte, kann er trotzdem auf seine Leistungen - über die gesamte Saison gesehen - stolz sein. Das Centre International d’Étude du Sport (CIES) präsentierte vor kurzem eine Rangliste, in der Sommer unter Berücksichtigung zahlreicher Komponenten weltweit als zweitbester Torhüter der letzten 365 Tage geführt wird. Einzig der Italiener Gianluigi Donnarumma von PSG steht vor ihm. Zahlen und Statistiken unterstreichen also den Eindruck, dass sich Sommer auf Weltklasse-Niveau bewegt.