Spätestens seit dem Champions-League-Finale gegen Paris St. Germain sind sich die meisten Fachleute einig, dass Manuel Neuer der aktuell beste Torhüter der Welt ist. Schon in den Spielen vor dem Endspiel lieferte er genug Argumente für diese Annahme. Der 34 Jahre alte Nationaltorhüter stellte in mehreren spielentscheidenden Aktionen seine Klasse unter Beweis und wurde zu Recht als nahezu unbezwingbare Wand gefeiert. Ausgerechnet in dieser Situation äußerte Florian Kastenmeier, seit vergangener Saison nach der Verletzung von Zack Steffen Stammtorhüter beim Bundesliga-Absteiger Fortuna Düsseldorf, auf die Frage eines Reporters, ob das Torwartspiel von Manuel Neuer „nah an Perfektion“ sei oder ob es aus seiner fachlichen Sicht noch ein paar Kritikpunkte“ gäbe, folgende Antwort: „Es ist schon nahe an der Perfektion, aber natürlich kann man darüber streiten, dass er ein paar Bälle hält, weil er sie hält, aber die Technik ist eine ganz andere. Aber er hält sie halt einfach. Er hat alles gehalten, was es zu halten gibt. Aber rein fachlich und technisch hat er schon das ein oder andere Manko. Aber solange er die Dinge hält und Welttorhüter wird, was will man da groß meckern?“ Ein unerfahrener, junger Torhüter stellt Neuers technische Qualitäten in Frage? Vielleicht war Kastenmeier noch zu unerfahren, um zu ahnen, welche Schlagzeilen und welchen Shitstorm er mit dieser Antwort auslöst. Er „verhöhne“ Neuer, „lästere“ über den Nationaltorhüter und „lehne sich mit seiner Kritik weit aus dem Fenster“, urteilten verschiedene Presseorgane. Auf den üblichen, beleidigenden Shitstorm in den sozialen Medien soll hier gar nicht eingegangen werden.
Hat Kastenmeier wirklich über Neuer gelästert?
Wie so oft und in den letzten Jahren zunehmend beschränken sich die Öffentlichkeit und einige Medien oft darauf, einzelne Wortfetzen aus einem Gesamtzitat herauszureißen, um mit einer reißerischen Schlagzeile öffentliche Wahrnehmung zu erhaschen. Wer aber genauer hinsieht, wird bemerken, dass sich Kastenmeier überaus positiv und voller Hochachtung über den Bayern-Kapitän („nah an der Perfektion“) äußert, aber bei ihm Techniken erkennt, die sich von anderen Torhütern unterscheiden und nicht unbedingt dem Technik-Leitfaden des DFB entsprechen. Die Frage ist deshalb, ob er in seiner Beurteilung wirklich falsch liegt.
Beispiel gefällig? Neuers Verhalten im 1 gegen 1
Seit der Einführung der Viererabwehrkette sieht sich der Torhüter zunehmend 1 gegen 1-Situationen ausgesetzt. Im „Leitfaden Torwartspiel“ hat der DFB ein Handbuch entwickelt, in dem verschiedene Torwarttechniken dargestellt und erklärt werden, die nach Meinung der Herausgeber die beste Technik darstellen. Im 1 gegen 1 schlagen die Verfasser des Handbuchs – je nach Situation – die Techniken Blocken, Fußabwehr mit kurzem und Fußabwehr mit langem Bein vor. Bei einem Abstand zum Schützen vor 2 m und weniger empfehlen die Autoren den Block, bei Aktionen aus größerer Distanz je nach Abstand und Winkel die Abwehr mit dem kurzen oder langen Bein. Allen drei Situation ist gemeinsam, dass der Torhüter in seiner Haltung aufrecht bleiben, die Absicht des Schützen antizipieren und dann mit dem entsprechenden Bein eine Abwehraktion einleiten soll.
Wenn man das Verhalten Neuers in der 1 gegen 1-Situation betrachtet, erkennt man, dass er eine ganz andere Technik in dieser Spielsituation anwendet. Sie lässt sich folgendermaßen beschreiben: Wie alle Torhüter steht er zunächst in der Grundstellung in Balance und beobachtet den Angreifer. Sobald der Schütze schießt, katapultiert sich Neuer explosionsartig in eine Position, in der er das tornahe Bein lang nach vorne und das torentferne Bein möglichst weit nach hinten ausfährt. Dasselbe macht mit den Händen. Seine Absicht ist, in dieser Position dem Schützen eine äußerst breite Körperfläche anzubieten in der Hoffnung, vom Schützen abgeschossen zu werden und so einen Torerfolg zu verhindern. Neuer praktiziert diese Technik mit extrem großem Erfolg. Zweimal verhinderte er mit dieser Technik allein im CL-Finale Torerfolge von PSG. Der Vorteil dieser Technik besteht in der großen Körperfläche, die es dem Schützen schwer macht, den Ball an ihm vorbei zu spielen. Allerdings hat sie auch Nachteile. Zum einen neigt der Torwart bei dieser Technik dazu, den Oberkörper zur Seite zu drehen und damit seine Körperfläche zu verringern. Zum anderen kann der Torhüter seine Position nicht mehr in die andere Richtung verändern, wenn er sie durchgezogen hat. Er „hängt“ in dieser Position fest und kann auf unerwartete Aktionen des Schützen nicht mehr anders reagieren. Bei zu viel Rücklage öffnet er dem Schützen zudem Räume über dem Körper. Deshalb vermitteln die meisten Torwarttrainer ein anderes technisches Verhalten in dieser Situation. Nichts anderes spricht Kastenmeier an. Immerhin hat er verschiedene U-Nationalmannschaften durchlaufen und wurde deshalb nach DFB-Leitlinien geschult.
Von Häme und Respektlosigkeit weit entfernt
Kastenmeier ist in seinen Aussagen also weit entfernt von Häme oder Respektlosigkeit gegenüber seinem Berufskollegen. Er brachte nur zum Ausdruck, dass man über die Richtigkeit bestimmter technischer Abläufe bei Neuer „streiten“ und die eine oder andere Technik Neuers als „Manko“ empfinden kann. Es war seine ehrliche und persönliche Einschätzung einer technischen Detailfrage. Statt den jungen Torhüter an den Pranger zu stellen, wäre eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Geäußerten sinnvoller gewesen. Dazu braucht es aber Fachwissen. Für schnelle Schlagzeilen ist diese Vorgehensweise aber sicherlich ungeeignet.
Umgehend hat Kastenmeier deshalb seine Aussagen auf Instagram klar gestellt: „Ich möchte hiermit klar und deutlich sagen, dass es mir fernliegt, den besten Torwart der Welt zu kritisieren.“ Und weiter: „Wer bin ich denn, dass ich mich über unseren Weltmeister, zweifachen Champions-League-Sieger. achtfachen Deutschen Meister und Welt-Torwart äußere? Ich bin weder abgehoben noch in der Position, andere Spieler pauschal zu bewerten.“
Wie dargestellt, wendet Manuel Neuer in der 1 gegen 1-Situation eine andere Technik an als die meisten seiner Berufskollegen. Er hat diese Technik für sich perfektioniert. Der Erfolg gibt ihm Recht, auch wenn in der Torhüterausbildung andere Verhaltensweisen vermittelt werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Vorstellung von einer richtigen Technik irgendwann verändert wird, obwohl sie anfangs belächelt wurde. Der Flop im Hochsprung oder der V-Stil beim Skispringen sind gute Beispiele dafür. Die Orientierung für optimale Techniken sind immer die Besten. Wenn Manuel Neuer seine 1 gegen 1-Technik weiterhin so erfolgreich praktiziert, ist nicht auszuschließen, dass irgendwann seine Technik zum Leitfaden für spätere Torhüter-Generationen erhoben werden könnte, obwohl sie bisher eher als suboptimal empfunden wird.