Viele Untersuchungen haben gezeigt: 75% aller Aktionen eines Torhüters in einem Spiel bestehen aus Aktionen mit dem Fuß. Neben der Sicherung des Balles in den eigenen Reihen nach Rückpässen ist der Torhüter inzwischen auch in starkem Maße in den Aufbau des Angriffsspiel einbezogen. Denn er entscheidet bei Ballbesitz, in welcher Richtung das Angriffsspiel seiner Mannschaft weitergeführt wird. Eine Mannschaft mit einem taktisch und technisch geschulten Torhüter hat bei Angriffsaktionen immer einen entscheidenden Vorteil. Wenn der Torhüter mit ins Aufbauspiel eingebunden ist, entsteht eine Überzahlsituation, elf Spieler spielen gegen zehn. Wenn das Zusammenspiel gut funktioniert, erkennen alle Mitspieler die Spielsituation und finden gemeinsam eine Lösung.
Um die richtige Lösung zu finden, muss der Torhüter über einen guten ersten Ballkontakt sowie eine gute Vororientierung verfügen. Sie ermöglicht ihm, die Situation richtig einzuschätzen und die richtige Lösung zu wählen. Neben anderen spielerischen Lösungen ist der Torhüter manchmal aber auch gezwungen, einen langen Ball zu spielen. Welche Optionen er dabei hat, zeigt euch Andrey Shpilev, Torwarttrainer beim russischen Erstligisten FC Ural Jekaterinburg.
Wann muss ein Torhüter nach einem Rückpass einen langen Ball spielen?
Es gibt Situationen, in denen der Torhüter auf ein Passspiel verzichten muss und stattdessen gezwungen ist, direkt mit dem ersten Kontakt einen langen Ball zu spielen. Am häufigsten passiert dies, wenn der Torhüter aktiv von einem gegnerischen Spieler gepresst wird und kein Mitspieler für ein Kurzpassspiel bereitsteht. In dieser Situation bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Ball lang zu klären. Es kann aber auch sein, dass der Torhüter einen langen Ball spielen muss, obwohl er die Zeit, den Ball in Ruhe zu kontrollieren und Anspielmöglichkeiten auf Mitspielern für einen Kurzpass hat. Möglicherweise erkennt der Torhüter aber, dass ein Gegenspieler schon auf den Pass lauert und der Angespielte deshalb bei einem Anspiel unter Druck gerät, so dass der Pass zu einem Ballverlust und im schlimmsten Fall sogar zu einem gefährlichen Moment vor dem eigenen Tor führen kann. Zudem kann ein langer Ball sinnvoll sein, wenn der Torhüter erkennt, dass ein eigener Angriffsspieler eine Position einnimmt, aus der heraus er in den Raum starten kann, um einen „zweiten Ball“ zu verarbeiten.
Wohin sollte der Torhüter den Ball lang spielen?
Für einen Torhüter gibt es mehrere Möglichkeiten, einen langen Ball sinnvoll zu verarbeiten.
a) Einen Zielspieler erkennen
Eine erste Möglichkeit ist in Grafik 1 veranschaulicht.
In der aufgezeigten Spielsituation stehen beide Mannschaften kompakt im Mittelfeld zusammen. Alle Angriffsspieler sind gedeckt. Ein vom Torhüter ziellos nach vorne geschlagener Ball würde deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit beim Gegner landen. Eine Option hat der Torwart trotzdem: Er kann sich bewusst einen groß gewachsenen oder kopfballstarken Angreifer als Zielspieler wählen, der der hoch einfallenden Ball - wie in unserem Beispiel - kontrolliert zu einem Mitspieler köpfen kann. Auch wenn der Zielspieler den Kopfball unter Gegnerbedrängung nicht kontrolliert durchführen kann, bliebe in diesem Fall immer noch die Chance auf die Eroberung des „zweiten Balles“.
b) Die Abwehrlinie überspielen
Sobald ein Ball geklärt und damit ein Angriff abgewehrt wurde, ist in der Regel vom Torhüter laut und deutlich das Kommando „raus“ zu vernehmen. Die Mitspieler sollen schnell nach vorne zu rücken, um den Abstand zum eigenen Tor zu vergrößern, der Gegner eventuell ins Abseits zu stellen oder die Mannschaft wieder kompakt zu halten. Dieses Rausrücken kann – wie in der Grafik oben dargestellt - für den gegnerischenTorhüter Torhüter bei Ballbesitz die Option bieten, die herausrückende Abwehrreihe mit einem flachen und geraden Pass hinter den Rücken der Abwehr zu überspielen und damit den Abwehrverbund zu überraschen.
Noch eine weitere Situation kann für den langen Ball eine Chance sein. Ein Rückpass zum gegnerischen Torhüter ist für manche Mannschaften oft der Auslöser für ein Angriffspressing. Für ein optimales Pressing rücken neben den Angreifern zugleich auch die Mittelfeld- und Abwehrspieler nach, um die Abstände zu den Gegenspielern gering zu halten und so sofort wieder eine Kompaktheit herzustellen. Auch diesen Moment kann ein Torhüter für einen langen Pass hinter die gegnerischen Abwehrreihe nutzen.
Dies kann – wie in der Grafik oben dargestellt - für den Torhüter in Ballbesitz die Option bieten, die herausrückende Abwehrreihe mit einem flachen und geraden Pass hinter den Rücken der Abwehr zu überspielen und damit den Abwehrverbund zu überraschen.
c) Bälle zwischen die Ketten spielen
Noch eine weitere Möglichkeit bietet sich an, nach einem langen Pass den Ball kontrolliert innerhalb der eigenen Reihen zu verarbeiten. Wie in der Grafik erkennbar, versuchen die gegnerischen Angreifer mit Unterstützung zweier Mittelfeldspieler den Torhüter unter Druck zu setzen.
Dadurch öffnet sich zwischen der gegnerischen Mittelfeld- und Abwehrreihe ein Raum, den der unter Druck gesetzte Torhüter nutzen kann, um einen Flugball genau in den Raum zwischen den Linien zu spielen.
Um alle die dargestellten Möglichkeiten gut umsetzen zu können, braucht der Torhüter eine entscheidende Fähigkeit: Er braucht das fußballerische Rüstzeug, einen Ball zielgenau mit dem rechten und linken Fuß in eine beabsichtigte Zone spielen zu können. Aber damit nicht genug. Er muss zudem diesen Pass in der richtigen Dosierung, der gewünschten Flugbahn und entsprechenden Stärke spielen können.