Bundesligist Mainz 05 hat gegenüber anderen Profiklubs ein klares Alleinstellungsmerkmal. Fast alle Mainzer Torhüter, sowohl im Bundesligakader (Robin Zentner, Finn Dahmen, Marius Liesegang) als auch im U23-Team (Lasse Rieß), das in der Regionalliga Südwest spielt, wurden in der eigenen Jugend ausgebildet. Aber auch einige andere Torhüter, die den Sprung in den Profi-Fußball schafften, durchliefen die Mainzer Torwartschule, z.B. Florian Müller (SC Freiburg), Jannik Huth (SC Paderborn), Jan-Christoph Bartels (Waldhof Mannheim oder Lennart Grill (Bayer Leverkusen). Einer der „Macher“ der überragenden Torwartausbildung in Mainz ist Sven Hoffmeister. Seit 2014 arbeitet er als Chef-Torwarttrainer im NLZ des Bundesligisten. Im Sommer 2018 verlängerte er seinen Vertrag langfristig.
Goalguard hat den 49-jährigen ehemaligen Profitorhüter (u.a. Mainz 05, Kickers Emden, SSV Reutlingen, SV Sandhausen, Hessen Kassel) zu den Gründen für die hervorragende Ausbildung, zu seiner Arbeitsweise sowie den Auswahlkriterien bei der Sichtung von Torwarttalenten befragt.
Artur Stopper Sven, seit 2014 bist du als Chef-Torwarttrainer im NLZ von Mainz 05 für die Ausbildung der Torleute im Leistungsbereich von der U16 bis zur U23 zuständig. Vor kurzem hast du deinen Vertrag langfristig verlängert. Was schätzt du an deiner Arbeit in Mainz?
Sven Hoffmeister Ich schätze zum einen die Plattform, die mir Mainz 05 bietet, mit den jungen Torhütern arbeiten zu können. Den vorhandenen Torwartleitfaden zur Torwartausbildung kann ich nach meinen Vorstellungen weiterentwickeln und gestalten, ohne dass jemand auf meine Arbeit Einfluss nimmt. Ich kann meine Ideen vom Torwartspiel eins zu eins umsetzen und in unserem Torwarthandbuch dokumentieren. Zum anderen schätze ich die Art und Weise, wie in diesem Verein die Verantwortlichen und die Trainerkollegen miteinander umgehen.
Artur Stopper Mainz 05 unterscheidet sich von Ligakonkurrenten in einem Punkt entscheidend: Fast alle Torhüterpositionen - sowohl im Bundesliga- als auch im Regionalligateam - sind mit Torhütern besetzt, die in der eigenen Jugendabteilung ausgebildet wurden. Wie schafft ihr es in Mainz, seit Jahren so viele Torhüter auf Top-Niveau auszubilden?
Sven Hoffmeister Darauf wurde ich im Rahmen meiner Torwarttrainerausbildung zur UEFA A-Lizenz immer wieder von Kollegen angesprochen, weil ihnen das auch aufgefallen war. Aber ein so großes Geheimnis ist das gar nicht. Uns geht es vor allem darum, die Torhüter in jungen Jahren technisch gut auszubilden. Dabei reicht es uns nicht, nur die Jungs darauf hinzuweisen, dass sie z.B. den Auftaktschritt falsch gesetzt oder die Handhaltung falsch gewählt haben. Wir sind ständig hinterher, ihre Technik durch hohe Wiederholungszahlen und Videosequenzen, mit deren Hilfe wir den Jungs die Technik sowie ihre Fehler anschaulich machen, zu verbessern. Im weiteren Ausbildungsverlauf füllen wir die Trainingsarbeit mit Torwartprinzipien. Die Keeper müssen wissen, in welcher Situation sie welche Technik und später welche Taktik anwenden müssen. Das ist unser Ansatz, der uns vielleicht von anderen unterscheidet.
Artur Stopper Immer wieder betonst du die enge Zusammenarbeit mit deinen Torwarttrainerkollegen im Nachwuchsleistungszentrum. Wie sieht diese konkret aus?
Sven Hoffmeister Ich sitze seit fast zwei Jahren mit meinen Torwarttrainer-Kollegen Toma Trocha, Frederik Drechsler und Mario Schieferstein täglich zum Austausch zusammen. Am Anfang der Woche unterhalten wir uns in der Regel über die verschiedenen Torwartteams und allgemein um das Torwartgeschehen national und international. Wir besprechen die Spiele des gelaufenen Wochenendes sowie die Trainingsinhalte und Belastungsmerkmale der Woche. Außerdem analysieren wir gemeinsam alle Gegentore unserer Keeper. So nähern wir uns in unserer Beurteilung und Denkweise untereinander an und sprechen eine gemeinsame Sprache. Diese Ergebnisse spiegeln sich dann in der Gestaltung der aktuellen Trainingswoche wieder.
Artur Stopper Talent ist eine wichtige Voraussetzung, um junge Torhüter auf ein bestimmtes Niveau entwickeln zu können. Worauf achtet ihr beim Scouting und der Auswahl von Torhütern besonders?
Sven Hoffmeister Unsere Scouts machen uns darauf aufmerksam, wenn ihnen ein Torhüter bei ihren Spielbeobachtungen mehrfach positiv aufgefallen ist. Unsere Torwarttrainer beobachten dann diesen Torhüter genauer, denn normale Scouts sehen einen Torhüter meist mit anderen Augen als Torwarttrainer. Wir als Torwarttrainer betrachten in einem ersten Step, wie sich der Torhüter bewegt und wie er auf uns wirkt. Das hat zunächst noch nichts mit dem eigentlichen Torwartspiel zu tun. In einem nächsten Schritt schauen wir uns weitere Spiele an und beobachten, wie der Torhüter zusammen mit dem Abwehrverbund agiert, ob er beispielsweise Kontakt zu seinen Mitspielern hat oder nur für sich allein agiert. Des Weiteren achten wir darauf, wie er technisch ausgebildet ist, wie er Techniken anwendet und ob er eine bestimmte Technik als besondere Waffe hat. So arbeiten wir uns an einen Torhüter heran.
Artur Stopper Welche Rolle spielt dabei die Größe oder die zu erwartende Größe bei der Auswahl von Jugendtorhütern?
Sven Hoffmeister Die ist natürlich auch bei uns ein Thema. Zunächst muss man aber festlegen, was klein und was groß ist. Wenn wir die Jungs scouten, können wir allerdings noch nicht wissen, wie groß sie werden. Deswegen schauen wir zunächst auf die Aspekte, die ich gerade beschrieben habe. Wir haben aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass kleinere Torhüter mit einer enormen Sprungkraft vieles kaschieren können oder wenn sie z.B. im fußballerischen Bereich überragend sind, worauf wir natürlich auch achten. Ich muss aber sagen, dass größere Torhüter allein schon aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen meist eine bessere Wahrnehmung und Präsenz im Strafraum verkörpern.
Artur Stopper Du selbst warst in den 90er-Jahren viele Jahre als Profitorhüter tätig. Was beherrschen deine jungen Nachwuchstorhüter schon besser als du früher?
Sven Hoffmeister (schmunzelt) Das ist eine Top-Frage, die ist richtig gut! Ich bin gar nicht so komplett ausgebildet worden, sondern habe viel intuitiv gemacht. Lange Zeit hatte ich auch keinen Torwarttrainer. Es hieß dann, mach dich mal 30 Minuten warm, wir brauchen dich dann. Im Nachhinein frage ich mich schon, was aus mir geworden wäre, wenn ich schon diese komplette Ausbildung von heute bekommen hätte. Uns wurde beispielsweise gesagt, den Ball musst du aber halten. Aber niemand beantwortete uns die Frage nach dem „Wie“. Wir mussten einfach ausprobieren, und hier beginnt der Unterschied zu früher. Junge Torhüter bekommen heutzutage diese Hilfestellung. Wir besprechen Techniken und taktische Verhaltensweisen in der Zielverteidigung und Raumverteidigung. Wann stelle ich mich dem 1 gegen 1, oder wann ist es besser, defensiver zu agieren, um den Schuss in der richtigen Position mit der angebrachten Technik abzuwehren. Die Torhüter werden im Torwarttraining auf die Inhalte des Mannschaftstrainings vorbereitet. Werden dort beispielsweise Angriffe über den Flügel trainiert, arbeiten wir im Torwarttraining Prinzipien der Querpassverteidigung und dem Abfangen von Flanken heraus. Diese intensive Arbeit mit den Prinzipien und der Abstimmung mit dem Abwehrverbund sehe ich als Vorteil zu früher. Das beherrschen sie heutzutage besser.
Artur Stopper Sehr oft wird Torhütern von Reportern die Schuld am Tor gegeben, wenn der Ball in der kurzen Ecke eingeschlagen hat. Ist ein Tor in die kurze Ecke immer ein Torwartfehler?
Sven Hoffmeister Nein, nicht immer. Wir schulen unsere Keeper darin, auf den Ball zu reagieren. Wenn wir wollen, dass der Torhüter auch in die Querpassverteidigung geht, braucht es eine offensivere Spielweise des Torhüters. Daher müssen wir Torwarttrainer bei höherem Risiko auch akzeptieren, dass ein Ball mal in der kurzen Ecke einschlägt. Cheftrainer sehen das häufig anders. Sie verfallen oft in die alte Vorstellung, dass der Ball dort einfach nicht rein darf, und nehmen manchmal zu wenig wahr, wie viele Bälle ein Torhüter in der Saison durch die Querpassverteidigung abgefangen hat im Verhältnis zu Gegentoren in die kurze Ecke. Deshalb versuche ich im Austausch und in Abstimmung mit dem Cheftrainer eine Basis für ein mutigeres Torwartspiel zu finden.
Artur Stopper Besonders ältere Fußballfans erzählen gerne davon, wie sich frühere Torwartgrößen bei Flanken in Rambo-Manier ins Getümmel stürzten und den Ball klärten. Inzwischen ziehen sich Torhüter oft eher auf die Torlinie zurück. Wie würdest du Rambo-Romantikern dieses veränderte Torwartverhalten erklären?
Sven Hoffmeister Das ist ganz einfach zu erklären. Heutzutage werden Flanken mit einer ganz anderen Technik geschlagen. Sie fliegen viel flacher vor das Tor, nicht mehr wie früher eher in einem höheren Bogen. Bei Flanken, die aus einer größeren Entfernung etwas höher hereinfliegen, geht es für mich deshalb mehr um das richtige Stellungsspiel, um eine offensivere Positionierung, damit der Torhüter einen kürzeren Weg zum höher hereingespielten Ball hat. Wenn der Ball aber flacher hereinfliegt, empfehle ich meinen Torhütern eher, sich auf die Torlinie zurückfallen zu lassen, also von Raum- auf Zielverteidigung umzuschalten. Das Verhalten in Rambo-Manier ist also nicht immer sinnvoll und wird heutzutage auch mit Strafstoß von den Schiedsrichtern geahndet (z.B. 2019 bei der UEFA U21 EM, Nübel im Spiel gegen Österreich).
Artur Stopper Oft orientieren sich Torwarttrainer in ihrer Arbeit an einem Torhüter, der ihren Vorstellungen vom Torwartspiel am meisten entspricht. Welcher Torhüter – außer den Mainzern - kommt deinem Ideal vom Torwartspiel am nächsten?
Sven Hoffmeister Ich habe gerne einem Edwin van der Sar oder einem Jean-Marie Pfaff zugeschaut. Ihr einfaches und sachliches Torwartspiel, gepaart mit viel Mut, Ausstrahlung und Präsenz, hat mir immer imponiert. Weil ich selbst eher der solide Typ bin, hat mir an Jean-Marie Pfaff zusätzlich seine Lockerheit gefallen, mit der er auch mal abschalten oder von einer Schwäche ablenken konnte. Ich schätze also an Torhütern Sachlichkeit, nicht übertrieben zu fliegen oder die Fähigkeit, auch eine Situation schon im Vorfeld im Ansatz mit dem Abwehrspielern wegzucoachen, so dass er sich gar nicht einer Parade oder einer 1gegen1-Situation aussetzen muss. Möglicherweise wird ein Torhüter bei dieser Spielweise aber weniger öffentlich wahrgenommen, weil Medien und Zuschauer spektakuläre Paraden und fünfmaliges Abrollen nach einer Abwehraktion bevorzugen. Dieses Torwartverhalten entspricht aber nicht meiner Vorstellung vom Torwartspiel.
Artur Stopper Im bisherigen Saisonverlauf haben sich bei Mainz 05 II Marius Liesegang (6 Einsätze) und Lasse Rieß (5) zwischen den Pfosten abgewechselt. Die gängige Meinung ist, dass ein Torhüter nur bei ständiger Spielpraxis besser wird. Welches Ziel verfolgt ihr mit dieser Rotation?
Sven Hoffmeister Zunächst wollen wir natürlich, dass die Jungs viel Einsatzzeiten auf hohem Spielniveau bekommen, um Spielerfahrung zu sammeln. Aus diesem Grund geben wir allen Keepern auch die Möglichkeit dazu, sich zu präsentieren. Wenn man jedoch Spiel- und Trainingszeit miteinander vergleicht, wird man leicht feststellen, dass die Trainingszeit bei weitem überwiegt. Die Spieler verfallen aber immer in das Muster, dass sie spielen, spielen, spielen müssen und unterschätzen den Trainingsbetrieb. Diese Meinung kann ich aber auch ein Stück weit verstehen. Wir benötigen aber viel Trainingszeit, damit die Keeper ihre individuellen Ziele in der Ausbildung zum Top-Torhüter erreichen. Dafür gestalten wir ein möglichst spielnahes Torwarttraining in Wettkampftempo mit hoher Qualität in den Aktionen und Abschlüssen. Wir wollen uns dadurch dem Wettkampf annähern und unsere Keeper auch im Training in Situationen bringen, die dem Spiel ähneln. Wir glauben, dass wir so unseren Keepern in allen Bereichen der Ausbildung gerecht werden und sie auf ihre Karriere bestmöglich vorbereiten können. Dieser Verantwortung unserer Torhüter gegenüber stellen wir uns gerne.
Artur Stopper Abschließende Frage: Was ist nach deinen Erfahrungen für Nachwuchstorhüter die größte Hürde, um den Sprung ins Profi-Geschäft zu schaffen?
Sven Hoffmeister Da sich unsere Keeper alle noch in der Schule oder im Studium befinden und den Traum vom Profitorwart haben sowie die Pubertät und den Prozess der Selbstfindung vor sich haben, ist es für mich der Weg, der sich als Hürde aufstellt. Wer in der Lage ist, einen geradlinigen Weg zu finden, Schwierigkeiten zu lösen, den inneren Schweinehund zu überwinden und nicht immer den einfachen Weg zu nehmen, der ist auf einem guten Weg, den Sprung ins Profi-Geschäft zu schaffen.
Wenn ich all die Erfahrung, die ich selbst als Profitorhüter oder in den Jahren als Torwarttrainer gesammelt habe, direkt an die Nachwuchstorhüter weitergeben könnte, könnte ich die Jungs in ihrem Entwicklungsschritt um zwei bis drei Jahre voranbringen, wenn sie die Informationen sofort umsetzen könnten. Das ist aber nur bedingt möglich, weil die Jungs ihre eigenen Erfahrungen sammeln müssen. Diesen Schritt müssen sie selbst bewältigen. Um sich nach ganz oben durchzusetzen, gehört sicherlich auch das Glück dazu, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Ich bin mir aber sicher, dass die Keeper eine enorme Qualität haben, um ihr Ziel in Mainz zu erreichen.
Artur Stopper Sven, vielen Dank dafür, dass du dir Zeit für uns genommen hast, und wünschen dir mit Mainz 05 weiterhin viel Erfolg bei deiner Arbeit!