Seit dem Sommer 2015 ist Patrik Borger Torwarttrainer bei Holstein Kiel. Nach dem Aufstieg in die erste Bundesliga im Sommer 2024 stieg die Mannschaft von der Ostsee nach einjährigem Intermezzo im deutschen Fußball-Oberhaus am Ende der abgelaufenen Saison wieder in die zweite Bundesliga ab. Für seine Arbeit als Torwarttrainer bringt Borger eigene Erfahrungen im Profibereich mit. Von 2006 bis 2010 stand der 46-Jährige beim damaligen Zweitligisten FC St. Pauli unter Vertrag.
Goalguard unterhielt sich mit Patrik über die Gründe des Abstiegs, über die hohe Anzahl an Gegentoren, die die Kieler hinnehmen mussten, über den Torwarttausch gegen Ende der Saison und die Optionen, die einem Torwarttrainer zur Verfügung stehen, den Torhüter in schwierigen Situationen zu unterstützen und zu stabilisieren.
Artur Stopper Patrik, nach nur einem Jahr Zugehörigkeit ist das Abenteuer Bundesliga für Holstein Kiel wieder beendet. Wie sehr schmerzt der Abstieg, wie ist deine momentane Gefühlslage?
Patrik Borger Direkt nach dem Spiel in Freiburg fühlte ich weniger traurig, sondern eher erschöpft und energielos. Inzwischen kann ich die Situation besser einschätzen und reflektieren. Abenteuer hört sich so an, als wäre eine Saison im Oberhaus für uns ein einmaliges Erlebnis gewesen, das sich nicht wiederholen ließe. Dem ist nicht so. Aber im Gegensatz zu Traditionsvereinen wie HSV, Schalke oder Hertha, bei denen der Abstieg ein richtiger Betriebsunfall war, ist er bei uns nicht so folgenschwer. Selbstverständlich hätten wir gerne weiterhin in der ersten Liga gespielt. Nun müssen wir uns aber neu aufstellen und versuchen, auch zukünftig unter die ersten 25 Mannschaften in Deutschland zu kommen. Das Freiburger Modell kann uns als Orientierung dienen, denn nach mehreren Auf- und Abstiegen hat sich der Verein inzwischen so gefestigt, dass er nun ein fester Bestandteil der ersten Liga ist. In Kiel ist auf allen Ebenen nicht alles so perfekt gelaufen, wie es hätte laufen müssen, um im Oberhaus zu bleiben.
Artur Stopper An fehlender Einstellung hat es sicherlich nicht gelegen, denn Holstein Kiel weist mit die höchste Laufleistung aller Bundesligateams auf. Wo siehst du die Gründe dafür, dass es nicht gereicht hat?
Patrik Borger Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Um in der Liga mithalten zu können, hätte jeder von uns über-performen müssen. Aber wir sind nicht immer an unsere Leistungsgrenze gekommen. Zum zweiten ist unser Verein finanziell nicht in der Lage wie z.B. die TSG Hoffenheim, über die Winterpause mal kurz 30 Millionen für neue Spieler ausgeben zu können. Deshalb musste bei uns jede Neuverpflichtung vor der Saison richtig passen. Ein wesentlicher Faktor für mich war aber, dass wir zu Beginn der Saison wenig punkteten und wir deshalb nicht in diesen Flow kamen, der uns nach ersten Erfolgen getragen hätte. Vom ersten Spieltag an waren wir auf den Abstiegsrängen und mussten uns abstrampeln. Deshalb fanden wir nie zu der Leichtigkeit, die man für den Erfolg braucht und die eine Mannschaft mitreißt.
Artur Stopper „Die Offensive gewinnt Spiele – mit der Defensive gewinnt man Meisterschaften“, lautet ein berühmtes Zitat von Sir Alex Ferguson. Während ihr mit eurer starken Offensive mit 49 geschossenen Toren – so viel wie der Tabellenfünfte Freiburg - im Mittelfeld bei den erzielten Toren liegt, habt ihr mit 80 Gegentoren deutlich die meisten Treffer hinnehmen müssen. Lag in der schwachen Defensive das eigentliche Problem von Holstein?
Patrik Borger Aus den Zahlen kann man sicherlich ablesen, dass das Problem bei uns vor allem in der Defensive lag. Eigentlich war dieser Mannschaftsteil im Aufstiegsjahr mit nur 39 Gegentreffern unser Prachtstück. Zweifelsohne mussten wir zu viele Gegentore hinnehmen. Mit 20 Gegentoren weniger wären wir ganz anders dagestanden.

Artur Stopper Kiel begann die Saison mit Timon Weiner als Nummer eins. Am 27. Spieltag habt ihr euch dann für einen Torwartwechsel entschieden und Thomas Dähne zwischen die Pfosten gestellt. Welche Überlegungen habt ihr mit diesem späten Torwartwechsel verbunden?
Patrik Borger Der Trainerstab hat das Prinzip Hoffnung bei dieser Entscheidung in die Waagschale geworfen. Wir hatten gehofft, dass Thomas befreiter agieren kann als Timon und als unverbrauchter Torhüter ins Spiel geht, der noch nicht so viele Gegentore hinnehmen musste. Die Entscheidung hatte also weniger mit der Leistung von Timon zu tun.
Artur Stopper Bei dieser hohen Anzahl an Gegentoren wird immer auch speziell der Torhüter von den Medien und Fans besonders beäugt. Kritiker warfen Schlussmann Timon Weiner vor, er habe selten überzeugt und keine Spiele für Holstein gewonnen. Für wie berechtigt hältst du diese Vorwürfe?
Patrik Borger Beim ersten oberflächlichen Blick mag das so sein. Andererseits muss man auch sagen, dass Timon nur wenige gravierende Fehler unterlaufen sind. Timon hat insgesamt ordentlich gehalten, kam aber wie die gesamte Mannschaft nie in diesen Flow, mit außergewöhnlichen Aktionen Spiele zu unseren Gunsten zu entscheiden. Weil er es immer richtig gut machen wollte, wirkte er manchmal angestrengt und verkrampft. Die Leichtigkeit aus der Zweitligasaison war ihm ein bisschen abhandengekommen. Es macht etwas mit einem Torhüter, der so viele Gegentore hinnehmen muss. Zu seiner Entlastung muss man aber auch sagen, dass Timon insgesamt die meisten Schüsse aller Bundesligatorhüter auf sein Tor bekam, wodurch die Wahrscheinlichkeit steigt, mehr Treffer hinnehmen zu müssen.

Artur Stopper Timon Weiner ist ein noch jüngerer Torhüter, der vor der Aufstiegssaison nur wenig Erfahrung im Profifußball sammeln konnte. Waren die Ansprüche, die an ihn gestellt waren, vielleicht zu hoch?
Patrik Borger In der Zweitligasaison war Timon einer der drei besten Torhüter, sowohl von den erfassten Daten her als auch der Anzahl der Gegentore. Da die Zweitligasaison sehr gut verlaufen war, musste er sich nie mit Fehlern oder Schwächephasen auseinandersetzen. Auch in dieser Saison hatte er seine Momente, in denen er die Mannschaft im Spiel gehalten hat. Aber er musste zugleich mit Situationen umgehen, in denen es nicht so lief, er die Stammtorhüterposition verteidigen musste und in der ersten Liga noch mehr im Fokus war. Das war neu und ungewohnt für ihn. Er ist der Typ Torhüter, der es das nächste Mal unbedingt besser machen will, was grundsätzlich sicherlich gut ist. Aber dadurch verkrampfte er auch. Auch große Torhüter wie Manuel Neuer mussten durch dieses Tal gehen, auch bei ihm lief auf Schalke nicht von Anfang an alles perfekt. Er hat daraus gelernt. Auch Alexander Nübel wurde in seiner Zeit bei Schalke immer wieder eingesetzt und herausgenommen, weil er nicht sofort funktioniert hat. Inzwischen ist er Nationaltorwart. Auch Timon wird lernen, mit diesen Situationen anders und lockerer umzugehen.
Artur Stopper Ständige Kritik und fehlendes Vertrauen gehen an keinem Torhüter spurlos vorbei, Wie schafft man es als Torwarttrainer, seinen Keeper trotzdem zu stabilisieren?
Patrik Borger Natürlich versucht man zunächst, dem Torhüter gut zuzureden. Daneben sollte man bei der Analyse einen Fehler nicht ganz so harsch ansprechen, wie man das sonst zu einem Zeitpunkt täte, in dem er richtig gut hält. Auch braucht man in diesen Phasen nicht zusätzlich auf einem Fehler herumhacken, weil der Torhüter in der Regel auch selbst weiß, was er falsch gemacht hat. Timon beispielsweise kann selbst gut einschätzen, ob der Ball haltbar war oder nicht oder was er in der jeweiligen Situation hätte anders machen können. Ein großes Problem heutzutage sind aber die sozialen Medien. Während man eine Zeitung geschlossen lassen kann, wenn man einen Fehler gemacht hat, wird man in sozialen Medien schnell und hart damit konfrontiert und kann kaum ausweichen. Hilfreich ist deshalb in dieser Lage für den Torhüter, wenn er Menschen um sich hat, die diese Momente auch schon selbst durchlebt haben und diesen Weg selbst schon gegangen sind, wie in meinem Fall. Weil ich in meiner Karriere ähnliche Situationen durchlebt habe, kann ich ihm mögliche Lösungswege aufzeigen. Andererseits ist jeder Torhüter anders und muss selbst Wege finden, wie er diese Situationen mit sich ausmacht.
Artur Stopper Marcel Rapp ist dafür bekannt, seine Startformation von Woche zu Woche umzubauen, um sie dem jeweiligen Gegner anzupassen. Was bei Feldspielern inzwischen selbstverständlich ist, gilt dies bisher auf der Torwartposition noch als Tabuthema. Wie denkst du über die Möglichkeit?
Patrik Borger Ich fand diesen Gedanken als Idee bereits vor Jahren interessant, denn der Trainer hätte die Möglichkeit, je nach Stärken und Besonderheiten des Gegners z.B. in dem einen Fall den fußballerisch stärkeren oder im anderen Fall den Torhüter mit der besseren Raumverteidigung einzusetzen. Für Holstein Kiel erscheint mir dieses Wechselspiel nicht als das Nonplusultra. Aber für Mannschaften, die international spielen und am Ende auf 60 bis 65 Spiele pro Saison kommen, macht eine Torwartrotation durchaus Sinn. Denn die Torhüter bekommen dann Phasen, in denen sie sich zwischendurch mental und körperlich erholen können. Zudem bieten solche Momente die Möglichkeit, mal wieder intensiv zu trainieren oder gezielt an Schwächen zu arbeiten. Die Nummer eins könnte dann 70 – 80 % der Spiele absolvieren und den Fokus speziell auf die entscheidenden Spiele richten. Das hielte ich nicht für verkehrt.

Bereits Ende April meldeten sowohl die BILD als auch die Kieler Nachrichten, dass die Störche auf der Suche nach einem neuen Torhüter seien und dabei das 19-jährige Stuttgarter Nachwuchstalent Dennis Seimen als Leihspieler im Visier hätten. Was ist dran an dieser Meldung?
Patrik Borger Wir spielen mit dem Gedanken, einen jüngeren Torwart hinzuzuholen. Wir haben uns auch mit Dennis Seimen beschäftigt, und sicherlich wäre es ein interessanter Torhüter für uns. Allerdings wäre das Leihgeschäft nicht so interessant für uns. Deshalb haben wir diese Personalie etwas zur Seite geschoben, weil wir eher einen Torhüter fest verpflichten wollen als einen Leihspieler, obwohl Holstein Kiel in den vergangenen Jahren z.B. mit Tim Schreiber oder Robin Zentner des Öfteren auch Torhüter ausgeliehen hatte. In der Phase, wo sich der Verein gerade befindet, wäre es aus meiner Sicht eher ein Nachteil, auf einen Leihspieler zu setzen. Sicherlich hat eine Ausleihe auch Vorteile, wenn man einen guten Torhüter verpflichten kann. Aber es schwingen auch einige Nachteile im Hintergrund mit.
Patrik, ich wünsche euch, dass ihr die Herausforderungen bei der Kaderplanung gut bewältigt und weiter an die Erfolge der letzten Jahre anknüpfen könnt. Dir vielen Dank, dass du dir Zeit für uns genommen hast.