Seit 2011 arbeitet Patrick Foletti als Torwarttrainer der Schweizer Nationalmannschaft. Als „Head of Goalkeeper Coaches“ ist er aber gleichzeitig auch hauptverantwortlich für die seit Jahren überaus erfolgreiche Ausbildung der Schweizer Torhüter, denn er hat das Schweizer Ausbildungskonzept entwickelt und stellt durch ständigen Austausch mit den Vereinen sicher, dass die Ausbildung im Juniorenbereich einheitlich gehandhabt wird. Über viele Jahre hat sich Patrick Foletti weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus einen Ruf als absoluter Fachmann im Torwartbereich erarbeitet. Nicht ohne Grund wird die Schweiz in Sachen Torwartausbildung von größeren Fußballnationen kopiert.
Goalguard hatte die Möglichkeit, mit Patrick über die bevorstehende EM, über die Hierarchie im Schweizer Nationalteam, über das Torwartspiel von Yann Sommer und die Rolle von Big Data bei seiner Arbeit zu sprechen.
Artur Stopper Patrick, am vergangenen Montag hat die Schweizer Nationalmannschaft ihr Base Camp in Stuttgart bezogen. Wie gut seid ihr schon innerlich in eurer vorübergehenden Heimat angekommen?
Patrick Foletti Definitiv gut. Ich sagte gestern schon zu jemanden, dass ich jetzt nach Hause fahre. (lacht) Dabei hatte ich nicht die Schweiz gemeint, sondern mein Zimmer. Wir fühlen uns puddelwohl. Die Voraussetzungen sind genial. Das Hotel steht nur für uns allein zur Verfügung. Die Räume wurden so gestaltet, dass wir dieses Family-Feeling bekommen. Unser Trainingsplatz ist sehr nahe beim Hotel. Es ist also alles bestens vorbereitet, um eine gute und erfolgreiche EM zu bestreiten.
Artur Stopper Am kommenden Samstag beginnt für euch die EM mit dem ersten Spiel gegen Ungarn. Wie viel Bauchkribbeln spürst du schon jetzt?
Patrick Foletti Die Anspannung steigt, das ist normal. Auch wenn es für mich bereits das sechste Turnier mit der A-Nationalmannschaft ist, spürt man sie kurz vor Beginn sowohl bei sich selbst, aber auch bei allen anderen Beteiligten. Es herrscht schon eine andere Atmosphäre als in den vergangenen zwei Wochen im Pre-Camp in der Schweiz. Die Vorfreude auf das Turnier ist groß.
Artur Stopper Mit Yann Sommer und Gregor Kobel hat die Schweiz - ähnlich wie Deutschland - zwei Torhüter von internationalem Top-Format in ihren Reihen. Was hat für euch den Ausschlag gegeben, auch bei diesem Turnier auf Yann Sommer zu setzen?
Patrick Foletti Tatsächlich haben wir, wie du richtig gesagt hast, mehrere Top-Torhüter in der Schweiz. In der Öffentlichkeit ist meist nur von Yann und Gregor die Rede. Aber ich übersehe nicht, dass wir unter anderem mit Yvon Mvogo, der trotz des Abstiegs mit dem FC Lorient eine tolle Arbeit leistet, und Jonas Omlin, der gar nicht dabei ist, weitere großartige Torhüter haben. Im Pre-Camp hatten wir zudem mit Marvin Keller uns Pascal Loretz die beiden jungen U21-Torhüter in der Vorbereitung mit dabei. Die Problematik, die wir im Moment haben, wird sich auch in den kommenden Jahren wiederholen. Denn die Unterschiede unter den Torhüter sind inzwischen minimal geworden. Vor zehn Jahren war Diego Benaglio die unbestrittene Nummer eins in der Schweiz. Ohne den anderen gegenüber despektierlich zu sein, eine mögliche Ablösung durch seine Konkurrenten Johnny Leoni oder Marco Wölfli war gar nie Thema. Beide hatten akzeptiert, dass Diego weit weg von ihnen war. Heutzutage sind diese Unterschiede gering. Deswegen ist es schwierig für die Jungs, die kleinen Unterschiede selbst wahrzunehmen und sich richtig einzuordnen. Für unser Trainerteam war letztendlich die Kontinuität und die Erfahrung das entscheidende Thema. Deswegen haben wir uns bereits früh für eine klare Hierarchie mit Yann Sommer als Nummer eins, Gregor Kobel als Nummer zwei und Yves Mvogo als Nummer drei entschieden.
Artur Stopper Übersehen sogenannte Experten und die Fans manchmal, dass es außer der Anzahl an gehaltenen Bällen noch andere Aspekte gibt, die einen Torhüter zur Nummer eins im Team machen?
Patrick Foletti Das stimmt sicherlich zum Teil. Im Übrigen glaube ich, dass diese Experten nur das sehen, was sie sehen wollen, und vergessen dabei, dass das heutige Torwartspiel viel komplexer ist und nicht mehr nur aus Torverteidigung besteht. Es gibt noch viele andere Bereiche, die ein Torhüter heutzutage beherrschen muss.
Artur Stopper Seit August 2014 ist Yann Sommer der Stammtorhüter der Nati. Mit 35 Jahren und 90 Länderspielen bringt Yann Sommer enorm viel Erfahrung mit. Was macht eigentlich sein Torwartspiel aus?
Patrick Foletti Yann hat eine große Spielintelligenz. Betrachtet man seine Größe, ist er ein Typ von Torhüter, der am Aussterben ist, wenn wir sehen, welche Hünen ansonsten in Europa unterwegs sind. Ein kleinerer Torhüter wie er muss deshalb eine perfekte Vororientierung haben und das Spiel gut lesen können, um dadurch eine gute Antizipation zu haben, mit deren Hilfe er viele Gefahren, die er im Nachhinein in der Torverteidigung ausbügeln müsste, bereits im Voraus bereinigen kann. Dadurch wirkt sein Torwartspiel nicht so spektakulär wie das manch anderer Torhüter und wird nicht von allen so wahrgenommen, ist aber dafür sehr effektiv. Seine Spielintelligenz, sowohl in der Defensive als auch in der Offensive, macht sein Torwartspiel so besonders. Hinzu kommt seine mentale Stärke, die aber auf diesem Level heutzutage jeder Torhüter braucht, damit er alle drei Tage auf Top-Level ein Top-Leistung abrufen kann. Die beiden Faktoren Spielintelligenz und mentale Stärke machen bei Yann den Unterschied.
Artur Stopper Der Gewinn der italienischen Meisterschaft ist die bisherige Krönung in Yann Sommers Karriere. Wie wichtig sind solche Erfolge für das Selbstbewusstsein und Urvertrauen in seine Leistungsfähigkeit?
Patrick Foletti Die sind wichtig für den Spieler selbst, aber auch für uns als Nationalmannschaft. Wir haben mit Akanji, Xhaka und Sommer drei Akteure in unseren Reihen, die in ihren Vereinen Meister geworden sind. Hinzu kommen die Jungs von Bologna, einem Verein, der sie mit bescheidenen finanziellen Mitteln für die Champions-League qualifiziert hat. Diese Erfolge im Verein sind immer auch ein Mehrwert für die Nationalmannschaft. Denn die Spieler haben gelernt, auf hohem Level siegen zu können. Dieses Selbstbewusstsein bringt uns auch als Mannschaft weiter.
Artur Stopper Nach jahrelangen Top-Leistungen bei Gladbach erlebte er einen Leistungseinbruch bei den Bayern. In Mailand hat er sich wieder absolut stabilisiert und liefert starke Leistungen. Hatte er in München kurzzeitig diese Selbstsicherung verloren?
Patrick Foletti Ein klares Nein. Er hat er sich nicht unterkriegen lassen, was ich ihm sehr hoch anrechne. Die fünf Monate bei Bayern waren sicherlich sehr herausfordernd für ihn, weil er Situationen erlebt hat, mit denen er zuvor nie konfrontiert war. Im Nachhinein war es für seine Entwicklung gut, dass er diese Situationen erlebt hat und sich aus ihnen wieder befreien konnte. Aber natürlich hat diese Zeit schon ein paar Kratzer und blaue Flecken bei ihm hinterlassen. Der Transfer zu Inter hat aber dazu beigetragen, dass diese blauen Flecken wieder schnell verschwunden sind.
Artur Stopper Tore aus Standardsituationen spielen im modernen Fußball eine wichtige Rolle. Zählt man die Elfmeter hinzu, fallen in fast allen Ligen Europas zwischen 30 – 40 % aller Tore durch Standards. Der Gegner hat genaue Laufwege einstudiert, der Torhüter kann hingegen nur darauf reagieren. Sind Standards für Torhüter deshalb besonders schwer zu verteidigen?
Patrick Foletti Die Statistiken verändern sich immer wieder. Der etwa 30 %-Anteil stimmt in den fünf größten Ligen, die letzten Welt- und Europameisterschaften ergeben wieder andere Zahlen. Aber letztendlich ist nicht der Torhüter, sondern die Zusammenarbeit zwischen dem Torhüter und dem Abwehrblock für die Verhinderung des Tores entscheidend. Die Zeiten, in denen wir vor allem isoliert mit den Torhütern das Verhalten bei Standards trainierten, sind noch nicht ausgestorben, werden aber weniger, denn wir müssen trainieren, das Tor im Verbund zu verteidigen. Die Schulung des Abwehrverhaltens bei Standards, in denen eine Strategie des Gegners auf unsere Gegenstrategie trifft, braucht Zeit und muss aufeinander abgestimmt werden. Es kommt also nicht vor allem auf die Qualität des Torhüters an, sondern auf die Aufgabenverteilung im Team, damit ein Standard gut verteidigt wird.
Artur Stopper Cheftrainer Murat Yakin hat das Spielsystem der Nati von einem 4-4-2 auf ein 3-4-2-1-System umgestellt. Hat diese Veränderung auch Einfluss auf das Torwartspiel?
Patrick Foletti Definitiv. Die Umstellung auf ein anderes System ist durchdacht und an unsere Spielertypen angepasst, denn viele unserer Spieler spielen in ihren Vereinen in diesem System und sind bereits mit den speziellen Mechanismen und Laufwegen vertraut. Für den Torhüter ergeben sich schon neue Herausforderungen, weil wir das Spiel anders aufbauen und uns in der Defensive anderes organisieren wollen. Es ist ein Unterschied, ob wir in der Dreier- oder Viererkette spielen. Im taktischen Bereich ergeben sich also andere Aufgaben für den Torhüter.
Artur Stopper Spieldaten nehmen immer mehr Einzug in die Fußballwelt. Welche Rolle spielen sie in deiner Arbeit, und welche Daten sind für dich zur Analyse und Verbesserung des Torwartspiels wichtig und interessant?
Patrick Foletti Wir leben heute in dieser Datenwelt, aus der wir mit Informationen überflutet werden. Wenn ich allein auf die GPS-Daten schaue, stehen mir 2000 Parameter zur Verfügung, um die Leistungen meiner Torhüter zu erfassen. Deshalb muss man meiner Meinung nach aufpassen, dass man das einige Bauchgefühl nicht verliert. Ich verdeutliche das am Beispiel Elfmeterschießen. Man kann alles analysieren und den Torhüter mit Statistiken füttern, letztlich tötet man damit aber seinen Instinkt. Zweifellos ist es wichtig, diese Daten zu haben. Aber meine Aufgabe als Trainer besteht darin, sie zu filtern und zu verstehen, welche Daten meinem Torhüter helfen. Es gibt Torhüter, die keine Daten brauchen. Wenn ich das weiß, verzichte ich darauf, denn in diesem Fall wäre der Einsatz von Daten kontraproduktiv. Für mich als Trainer sind die Daten schon wichtig, um z.B. bestimmte Trends zu erkennen und auf schnellere Art an Informationen gelangen, aber meine Augen bleiben mein fixester Parameter. Die Informationen sind für mich nur dazu da, um das zu bestätigen, was meine Augen gesehen haben. Meist decken sich meine Beobachtungen mit den Daten. Wenn das nicht so ist, muss ich mich hinterfragen, was die Gründe dafür sind und eventuell meinen Standpunkt überdenken.
Artur Stopper Der frühere Schweizer Nationaltorhüter Diego Benaglio sagte einmal über die Rolle des Torhüters: „Als Torwart kann man zehn Bälle halten. Wenn der elfte reingeht, ist man der Depp.“ Verlangt die Position des Torhüters eine besonders intensive mentale Vorbereitung, besonders auf den Umgang mit Fehlern? Wie wichtig ist dabei die Unterstützung durch einen Mentalcoach?
Patrick Foletti Ich glaube, dass die Rolle, die ein Torhüter einnehmen muss, nämlich manchmal Held und manchmal Depp zu sein, zugleich die Faszination dieser Position ausmacht. Ich bin Torhüter geworden, weil mich genau diese Situation gereizt hat. Wer Verantwortung trägt, muss eine bestimmte mentale Stärke mitbringen. Deshalb ist es für junge Torhüter wichtig zu erkennen, dass mentales Training und die mentale Vorbereitung ein Teil des Business sind. Vor zehn Jahren war dieser Bereich vielen noch suspekt, weil in ihrer Vorstellung jemand nur zum Psychologen musste, wenn er krank war. Mittlerweile haben bereits junge Torhüter frühzeitig erkannt, dass Mentaltraining wie Technik, Taktik oder Athletik eine weitere Komponente ist, die trainiert werden muss und entscheidend zur Entwicklung eines Torhüters beiträgt. Früher wurde der Kontakt mit einem Sportpsychologen als Schwäche ausgelegt, heutzutage bist du schwach, wenn du nicht hingehst.
Artur Stopper Abschließende Frage: Ab wann würdest du von einem erfolgreichen Abschneiden der Schweizer Nationalmannschaft bei der EM reden?
Patrick Foletti (lacht) Prognosen sind immer unglaublich gefährlich. Wir haben bei der letzten EM mit dem unglaublichen Spiel gegen Frankreich und dem Elfmeterschießen gegen Spanien gesehen, wie nahe Erfolg und Misserfolg beieinander liegen, als wir uns schon im Halbfinale in London gesehen hatten und dann doch nach Hause fliegen mussten. Ich traue unserer Mannshaft sehr viel zu. Im Moment spüre ich eine große Energie in der Mannschaft und die Qualität ist so hoch wie selten zuvor. Das erste wichtige Spiel ist schon am Samstag gegen Ungarn. Wenn wir gegen Ungarn ein positives Resultat erzielen, traue ich der Mannschaft vieles zu. Im Moment herrscht bei mir ein positives Gefühl.
Artur Stopper Patrick, ich wünsche euch auf diesen Weg viel Glück und Erfolg und bedanke mich recht herzlich bei dir, dass du dir trotz des dichten Zeitplans Zeit für uns genommen hast.