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Seit 2017 ist Matthias Tischer für die Profi-Torhüter des Zweitligisten 1. FC Magdeburg zuständig. 174 Spiele hatte der gebürtige Magdeburger als Torhüter für seinen Verein absolviert, bevor er im Anschluss an seine Karriere als Torwarttrainer in seinem Herzensklub weiterarbeitete. Vor einer besonderen Herausforderung steht er bei seiner Arbeit, seit im Februar 2021 Christian Tietz als Cheftrainer das Ruder bei den Magdeburgern übernommen hat. Mit ihm hielt die hohe Torwartkette Einzug ins Spielsystem der Domstädter. Keine Mannschaft im deutschen Profibereich agiert mit einem so hoch spielenden Torhüter wie der FCM. Nach anfänglichen Bedenken ist Matthias Tischer inzwischen von der mutigen Interpretation des Torwartspiels absolut überzeugt. Goalguard hatte die Möglichkeit, sich mit ihm über die Gründe für seine anfänglichen Zweifel zu unterhalten und zugleich zu erfahren, wie das außergewöhnliche Torwartspiel der Magdeburger funktioniert und welche Risiken dabei zu beachten sind.

Artur StopperArtur Stopper Matthias, der FC Magdeburg belegte in der abgelaufenen Saison nach der Vorrunde noch den vorletzten Platz und ein möglicher Abstieg war ein großes Thema. In der Rückrunde habt ihr euch berappelt und in der Abschlusstabelle mit 43 Punkten Platz elf erreicht. Wie habt ihr diese Wende geschafft?

Matthias TischerMatthias Tischer Dafür gibt es mehrere Gründe. Trotz vorübergehender Rückschläge haben wir an unserer Spielidee weiter festgehalten, weil wir wussten, dass wir Vertrauen in unser Spielsystem brauchen. Hinzu kam, dass wir uns im Laufe der Saison besser an die Herausforderungen der zweiten Liga angepasst haben, denn Fehler werden in dieser Liga weniger verziehen. In der Vorrunde hatten wir meist ordentlich gespielt, aber durch einfache Fehler den Gegner immer wieder zu Chancen eingeladen und wurden dafür bestraft. In der Rückrunde konnten wir uns außerdem stabilisieren, weil wir etwas mehr Augenmerk auf die Defensive gelegt und die entscheidenden Spiele gewonnen haben. Daher sind wir meiner Meinung nach völlig verdient in der Liga geblieben.

Artur StopperArtur Stopper Seit der Verpflichtung von Christian Tietz als Cheftrainer im Februar 2021 setzt ihr in Magdeburg dessen Idee der hohen Torwartkette um. Was waren deine ersten Gedanken als Torwarttrainer, als dir Christian Tietz sein zukünftiges Torwartkonzept vorstellte?

Matthias TischerMatthias Tischer Im ersten Moment fragte ich mich, wie der Aufbau eines völlig neuen Systems im Abstiegskampf überhaupt funktionieren kann. Denn wir waren zum Zeitpunkt der Verpflichtung von Christian Titz Tabellenletzter in der dritten Liga und die Spieler waren völlig verunsichert. Es gehörte viel Mut dazu, auch in diese Situation das Spiel mutig aufzubauen und nicht nur die Bälle hinten herauszuschlagen. Für mich war es ein Wow-Effekt, denn viele Trainer hätten in dieser sportlich schwierigen Situation erst einmal versucht, die Defensive zu stabilisieren. Unser Trainer dachte genau andersherum. Er war der Meinung, dass wir unsere Punkte einfahren müssen, indem wir Chancen kreieren und dadurch Tore erzielen. Das ging seiner Meinung nach nur mit einem guten Spielaufbau von hinten heraus. Wie man gesehen hat, ist dieses Konzept absolut gut aufgegangen.

Artur StopperArtur Stopper Ein Reporter hat euer Spiel einmal als „die Wiedergeburt des Liberos“ bezeichnet. Hat er recht?

Matthias TischerMatthias Tischer Er hat recht in dem Sinne, dass der Torhüter hochsteht, viel mitspielt und wir diesen Dreierkettenaufbau über den Torhüter spielen. Im Offensivspiel trifft diese Formulierung zu, im Defensivspiel hingegen steht der Torhüter selbstverständlich im Tor und nicht an der 16-m-Linie.

Artur StopperArtur Stopper Mit 55 Gegentoren musstet ihr die fünftmeisten in der zweiten Liga hinnehmen. Kritiker eures mutigen Spielstils behaupten, dies sei eine Folge der hohen Positionierung des Keepers. Kannst du das Unbehagen mancher Betrachter verstehen, die bei der hohen Torwartkette die Gefahr für größer halten als den positiven Effekt, und was antwortest du diesen Zweiflern?

Matthias TischerMatthias Tischer Wenn man sich unsere Gegentore genauer anschaut, sind diese nie wegen der hohen Positionierung des Torhüters entstanden. Daher kann ich diese Kritik nicht nachvollziehen. Unser Torhüter steht beim Dreieraufbau höher, wodurch sich die Innenverteidiger breiter aufstellen können. Damit schaffen wir im Mittelfeld eine Überzahl. Unsere Spielweise ist mutig und anders, sie ist ein Alleinstellungsmerkmal und wird deshalb manchmal kritisiert. Die meisten Gegentore sind dadurch entstanden, dass wir vor allem in der Vorrunde viele einfache Fehler gemacht haben und extreme Probleme bei Standards hatten, weil die Gegenspieler im Zweikampf oft wuchtiger waren. Diese Schwächen konnten wir in der Rückrunde reduzieren.

Artur StopperArtur Stopper Euer System fordert einen spielstarken Torhüter, der sowohl im Passspiel als auch bei langen Flugbällen sehr gut sein muss. Muss ein Torhüter diese Fähigkeiten bereits mitbringen, oder inwieweit kann man diese Qualitäten noch im Training entwickeln?

Matthias TischerMatthias Tischer Sowohl als auch. Für unser Torwartspiel ist schon elementar wichtig, dass die Torhüter fußballerisch gut ausgebildet und beidfüßig sind sowie unter höchstem gegnerischem Druck die beste Lösung finden. Dafür müssen sie bis zu neun Arten der Spielfortsetzung beherrschen, einen Chipball auf einen Außenverteidiger spielen und auch die Tiefe wahrnehmen können. Der Torhüter ist bei uns – ähnlich wie beim Handball – der Spielmacher, denn er bestimmt, welche Variante wir spielen. Deshalb ist es wichtig, dass der Torhüter bereits viel an Fähigkeiten mitbringt. Aber in der Art, wie wir im Torwart- und Mannschaftstraining trainieren, kann ein Keeper auch noch viel dazulernen. Die Wiederholungszahl bei der Ausbildung im spielerischen Bereich ist bei uns extrem hoch und die Drucksituationen werden oft spielnah trainiert, so dass die Torhüter gut darauf vorbereitet sind, in der Spielsituation die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Artur StopperArtur Stopper Wie bereits angesprochen, interpretiert ihr die Torwartkette extrem hoch. Reimann befindet sich beim Spielaufbau manchmal fast in der Nähe der Mittellinie. Was darf bei dieser Spielweise auf keinen Fall passieren?

Matthias TischerMatthias Tischer Bei dieser Spielweise muss der Torhüter schon darauf schauen, was der Innenverteidiger macht, wenn er vom Torwart angespielt wird. Dribbelt er in den Gegnerdruck hinein, muss sich der Torhüter sofort nach hinten absetzen. Spielt der IV einen Steckpass auf die Sechs, muss sich der Torhüter einerseits absetzen, aber zugleich auch für den Klatschball des Sechsers anspielbar sein. Der Torhüter macht also häufig eine Vor- und Rückwärtsbewegung, weil er auch immer die Gefahr eines Ballverlustes im Auge behalten und rechtzeitig auf Torverteidigung umschalten muss. Unser Grundsatz ist daher, dass der Torhüter nur so hochsteht, dass er es mit schnellen Bewegungen immer noch schafft, in eine gute Ausgangsposition zu kommen. Spielaufbau ist das eine, die Torverhinderung das andere. Deshalb ist es wichtig, dass der Torhüter eine gute Pendelbewegung hat und auch einschätzen kann, wann es ein 50:50 Ball ist, bei dem er schnell fallen muss, und wann ein Ball kontrolliert wird. Dann kann er auch höher stehen. Nach einer sechswöchigen Vorbereitungszeit haben die Torhüter in der Regel verstanden, wann sie die Position verändern bzw. anpassen müssen.

Artur StopperArtur Stopper Welche Sicherungsmöglichkeiten habt ihr im System Tietz eingebaut, um der Gefahr eines schnellen Konters vorzubeugen und sie zumindest zu begrenzen?

Matthias TischerMatthias Tischer Wenn wir über eine Seite durchspielen, nimmt die andere Seite die Tiefensicherung vor. Zusätzlich sichert der Torhüter dahinter den Raum gegen mögliche Steckpässe ab. In punkto Absicherung sind wir also gut aufgestellt. Leider hat das in der Vorrunde nicht so gut geklappt wie in der Rückrunde. Um den tiefen Raum gut zu sichern, braucht man zudem einen schnellen Innenverteidiger. Insgesamt ist für unser Spiel wichtig, Jungs zu haben, die spielintelligent sind und mögliche Gefahren bereits im eigenen Ballbesitz erkennen. Denn auch beim Offensivspiel muss man bereits defensiv denken.

Artur StopperArtur Stopper Gibt es bei euch bestimmte Trigger oder Auslöser, in denen sich der Torhüter im Aufbauspiel offensiv beteiligen soll, oder entscheidet allein der Torhüter darüber, wann er sich weit nach vorne ins Spiel einschaltet?

Matthias TischerMatthias Tischer Eigentlich ist es so, dass wir immer den Spielaufbau über den Torhüter verfolgen mit der Absicht, dem Gegner Aufgaben zu stellen. Wenn ein gegnerischer Spieler den Torhüter anläuft, wird automatisch irgendwo auf dem Feld ein anderer Spieler frei. Unser Prinzip ist also, immer in Überzahl zu spielen und nie 1gegen1. Durch dieses Überzahlspiel wird es für unsere Spieler einfacher, sich bis zum gegnerischen Tor durchzukombinieren, als wenn man auf dem gesamten Spielfeld 1gegen1 spielt.

Artur StopperArtur Stopper Ist diese Spielweise auch auf jede andere Mannschaft übertragbar?

Matthias TischerMatthias Tischer Es ist ein Prozess, den man nicht eins zu eins kopieren kann. Christian Titz gibt viel Input in die Mannschaft und klare Anker, woran sich die Spieler halten können. Man braucht dazu viele spielintelligente Spieler und vor allem einen Torhüter, der mutig ist und sich zutraut, diese Rolle spielen zu können. Für einen Torhüter, der jahrelang in einer tiefstehenden Kette viele Exit-Bälle, also Rückpässe mit einem Kontakt, spielen musste, wird es nicht leicht sein, sich auf unsere Spielweise mit Kurzpässen über die Sechs oder Chipbälle auf die Außenspieler einzustellen. Man braucht also einige Voraussetzungen für diese Spielweise. Eine Kopie allein genügt nicht.

Artur StopperArtur Stopper In der Regel praktiziert ihr ein 4:3:3-System. Ist dieses Spielsystem besonders geeignet, um den Gegner bei eigenem Ballverlust durch Gegenpressing sofort möglichst hoch im Spielaufbau zu stören und so den langen Flugball in den Rücken der Abwehr zu verhindern?

Matthias TischerMatthias Tischer Genau das ist eigentlich das Ziel in unserem 4:3:3. Man hat in diesem Spielsystem kurze Wege überall hin und alle Räume sind besetzt. Unser Ziel ist schon, dass wir im Ballbesitz eine gute Mannschaft in der Liga sind, bei Ballverlust aber sofort die Räume besetzt haben und dadurch ins Gegenpressing gehen können. Manchmal können wir den langen Ball nicht verhindern, aber meist ist er unkontrolliert gespielt, weil unsere Jungs sofort den Ballführenden unter Druck setzen und attackieren. Ein unkontrollierter Schlag ist aber im Normalfall in der Kette leicht zu verteidigen.

Artur StopperArtur Stopper Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft. Wo bietet eure Spielweise noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten für das Torwartspiel?

Matthias TischerMatthias Tischer Wenn man sich im internationalen Fußball umschaut, gibt es nicht viele Vereine, die unserer Spielsystem anwenden. Insofern praktizieren wir bereits etwas Neuartiges. Inwieweit sich unsere Spielweise noch auf andere Mannschaften überträgt, kann ich nicht einschätzen. Obwohl Christian Titz dieses System schon seit Jahren spielen lässt, hat es sich bei anderen Mannschaften noch nicht etabliert. Oftmals fehlt die Geduld gegenüber einem Trainer, der etwas Neues entwickeln will. Vielleicht sind auch manche Sportdirektoren von diesem System nicht zu überzeugen, weil sich möglicherweise der Erfolg nicht sofort einstellt. Aber man sieht, dass man mit Akribie und ruhigem Arbeiten, das wir in Magdeburg mit unserem Sportdirektor Otmar Schork haben, etwas erreichen kann, auch wenn es zwischenzeitlich mal etwas knirscht. Weitere größere Entwicklungsmöglichkeiten in unserer Spielweise sehe ich eher nicht unbedingt, weil auch bei uns im Stadion bereits jetzt manche Zuschauer ungeduldig werden, wenn man statt eines langen Balles ihrer Meinung nach zu viel hintenherum spielt. Viele Zuschauer sind einfach zu wenig in der Materie drin, um zu wissen, warum man diese Spielweise wählt, nämlich um die Wege in die Tiefe zu öffnen und in der anderen Hälfte Platz zu haben.

Artur StopperArtur Stopper Matthias, wir bedanken uns recht herzlich dafür, dass du uns einen Einblick in eure Spielweise gegeben hast, und wünsche dir und deinem Team weiterhin viel Erfolg!

Interview Matthias Tischer 1. FC Magdeburg 2. Bundesliga

Artur Stopper

Artur Stopper

Mit über 25 Jahren Erfahrung als Torwarttrainer weiß Artur, wie Torhüter ticken. Deshalb bevorzugt er Themen, die die Welt der Torhüter ausmachen: Vereinswechsel, Tiefschläge, Pechsträhnen, Höhenflüge, Emotionen, Ersatzbank, Halbgötter, Erfolge.

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