Vor einiger Zeit haben wir euch bereits in dem Artikel „Andrey Shpilev: Die Bedeutung der Augen im Torwartspiel“ ausführlich dargestellt, welche Bedeutung die Augen als Informationsquelle bei Menschen allgemein und speziell für die Wahrnehmung bei Torhütern haben. Andrey Shpilev zeigte in dem Artikel an drei Situationen auf, welch wichtige Rolle die Augen im Torwartspiel spielen. In manchen Situationen muss der Torhüter seinen Fokus auf den Ball blitzschnell verändern, weil sich die Flugbahn des Balles durch Ablenkung, Torabschlüsse nach Flanken oder andere Einflüsse plötzlich verändern kann. Zugleich muss er die Positionierung der gegnerischen Spieler sowie auch die seiner Mitspieler im Auge behalten, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Und last but not least muss er Situationen mutig und mit geöffneten Augen lösen, obwohl sein Augenreflex "Gefahr" signalisiert.
Andrey Shpilev, Torwarttrainer beim russischen Erstligisten FC Ural Jekaterinburg, stellt im folgenden Praxisteil Übungen vor, mit denen er das Blickverhalten und die Fokussierung seiner Torhüter schult und sie auf diese Situationen vorbereitet.
Das Auge vor und bei einer Flanke
In der ersten Trainingsübung ist eine Situation nachgestellt, wie sie häufig in einem Spiel auftritt. Ein Ball wird auf dem Zentrum heraus nach außen gespielt. Der Torhüter nimmt die Richtung des Passes, seine Stärke und die Flugbahn des Balles wahr. Während der Ball unterwegs ist, scannt der Keeper bereits den Raum vor seinem Tor. Er nimmt die Position von Mitspielern und Gegnern wahr und coacht bei Bedarf seine Verteidiger. Gleichzeitig passt er seine eigene Position der Spielsituation an. Anschließend richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Spieler, der den Pass erhält und die Flanke vors Tor schlagen wird. Mit Hilfe dieser Informationen bewertet der Torhüter die komplette Spielsituation vor der Flanke vor seinem Tor. Seine Auge ist dabei ständig im Einsatz.
Aber auch für die richtige Einschätzung der Flanke ist ein gutes Auge erforderlich. Sobald der Ball in Richtung Tor unterwegs ist, muss der Torhüter mit Hilfe seines Sehorgans die Flugbahn des Balles sowie die voraussichtliche Auftreffzone wahrnehmen. Aus diesen Beobachtungen trifft er - unter richtiger Einschätzung und Berücksichtigung der eigenen Fähigkeiten - die Entscheidung, ob er die Flanke abfangen kann oder besser in die Torverteidigung übergeht. Durch geeignete Übungen müssen diese Wahrnehmungsfähigkeiten regelmäßig im Torwarttraining geschult werden. In der folgenden Übung von Andrey Shpilev sind mehrere genannte Aspekte integriert: Das Scannen des Raumes (mit Tüchern von Torhüter 2), Beobachtung des Flankengebers, Einschätzung der Flanke, der richtige Absprungzeitpunkt zum Ball sowie die Spielfortsetzung.
Übungsaufbau
Etwa 6 m vor dem Tor stehen zwei Airbodys im Abstand von zirka 4 m nebeneinander. Ungefähr 20 m vor dem Tor ist mit vier Pylonen ein trapezförmiges Viereck aufgebaut, wenige Meter dahinter befinden sich mittig nebeneinander drei rechteckige, durch unterschiedliche Farben gekennzeichnete Sektoren mit einer Größe von etwa 7 x 3 m, in denen sich Torwart 2 hin- und herbewegt. Der Trainer hat eine Position nahe der Seitenauslinie neben einem Dummy eingenommen.
Übungsablauf
Torhüter 2 passt den Ball aus dem Mittelfeld auf den Trainer. Sobald der Ball in den mit Pylonen gekennzeichneten Sektor gelangt, scannt Torhüter 1 den Raum und ruft die Farbe, die Torhüter 2 mit einem farbigen Tuch anzeigt. Wenn sich der Ball dem Trainer nähert, konzentriert sich der Keeper auf ihn und erwartet die Flanke. Der Trainer kann entweder sofort flanken oder sich mit einer Drehbewegung vom Torhüter abdrehen. In diesem Fall scannt der Torhüter den Raum erneut und ruft die Farbe des Tuchs, das Torhüter 2 hochhält. Entscheidet sich der Trainer für eine Flanke, fängt der Keeper den Ball ab, läuft vorwärts und erfasst die Optionen der weiteren Spielfortsetzung. Hinweise für ihn sind die verschiedenfarbigen Tücher von Torhüter 2 sowie die drei verschiedenfarbigen, rechteckigen Sektoren, die durch Markierungsteller gekennzeichnet sind und in denen sich der Torhüter hin- und herbewegt. Als Regel für die Spielfortsetzung gilt: Wenn die Farbe des Sektors mit der Farbe des Tuches übereinstimmt, wirft Torhüter 1 den Ball auf Torhüter 2. Aber wenn die Farben nicht übereinstimmen, wirft er den Ball nach außen in den Lauf des Trainers.
Fokussierung auf den Schützen
Nach einer schnellen Drehung des Kopfes von einer Seite zur anderen braucht das menschliche Auge einen kurzen Moment, um den Blick wieder zu stabilisieren, nachdem er nach der Drehung für den Bruchteil einer Sekunde verschwommen war. Genau dieselben Wahrnehmungen hat ein Torhüter bei einem Torabschluss nach einer Flanke oder einem abgelenkten Ball, wenn er die Augen schnell auf den Schützen einstellen muss.
Andrey Shpilev hat sich dazu Gedanken gemacht, wie der Keeper auf diese Situation vorbereiten und dadurch seine Erfolgschance erhöhen kann. Seine Lösung: Der Torhüter soll, sobald der Ball gespielt wird, seine Augen bereits vor dem Torabschluss auf den Schützen fokussieren, gleichzeitig den Ball aber weiterhin im seitlichen Blickwinkel im Auge behalten.
Übung
Um dieses Verhalten zu schulen, schlägt Andrey Shpilev die folgende Übung vor, die sich bereits für das Warm-up eignet. Etwa 8 – 9 m vor dem Tor ist ein 7 x 4 m großes Feld mit vier Pylonen aufgebaut, in dem sich der Trainer befindet. Zu beiden Seiten des Rechtecks sind Torhüter 2 und 3 positioniert, die sich abwechselnd die Bälle in verschiedenen Höhen zupassen. Torhüter 1 befindet sich im Großtor.
Vor dem Passen hat Torhüter 1 seine Augen auf den Passgeber gerichtet. Sobald das Zuspiel zum Gegenüber die gedachte Linie der Pylonen überschreitet, wechselt Torhüter 1 seinen Fokus sofort hin zum Trainer, der ihm den Ball brusthoch zuspielt.
Variation
In derselben Übungsanordnung passen nun die Torhüter 2 und 3 abwechselnd einen Ball flach (in den Fuß) oder halbhoch (auf das Filippi-Shield) zum Trainer, der direkt aufs Tor abschließt. Wieder richtet Torhüter 1 seinen Blick möglichst schnell auf den Torschützen (hier der Trainer).
Die Augen geöffnet lassen
Jeder Mensch besitzt einen Augenreflex. Dieser Reflex schließt die Augenlider zum Schutz automatisch für einen Sekundenbruchteil, wenn er „Gefahr“ spürt. Auch die Augen des Torhüters reagieren auf eine mögliche „Gefahr“. Dieser Effekt ist im Torwartspiel häufig bei 1gegen1-Situationen, beim Ballangriff oder bei Schüssen aus der Nahdistanz zu beobachten, in denen im Moment des Blockierens die Augen auf die „Gefahr“ reagieren. Auch dazu hat Andrey Shpilev eine Übung entwickelt.
Übung
Der Torhüter steht in der Tormitte und hält hüfthoch auf beiden Händen einen Ball. Der Trainer befindet sich etwa 5 m entfernt von ihm mit einen Filippi-Shield in den Händen.
Der Torhüter wirft im Unterhandwurf mit der rechten Hand einen Ball in Richtung Filippi-Shield und wirft kurz später den anderen Ball mit der linken Hand in die Höhe zum Trainer. Der Trainer lässt den zuerst zugeworfenen Ball mit dem Filippi-Shield zum Torhüter zurückprallen. Während der Keeper auf seinen Schuss reagiert, nimmt der Trainer den zweiten Ball an und sucht sofort den Torabschluss. Der Keeper nimmt währenddessen schnell die Grundposition ein, blockt den Schuss des Trainers oder geht in den Ballangriff.
Variation
Der Schwierigkeitsgrad wird erhöht, wenn der Torhüter bei ansonsten gleicher Übungsanordnung neben den beiden Bällen auf der Hand noch einen zusätzlichen Ball direkt vor seinen Füßen liegen hat.
Der Torhüter wirft gleichzeitig die zwei Bälle, die er auf der Hand hält, in die Höhe und kickt dann fast gleichzeitig den am Boden liegenden Ball zum Trainer. Der Trainer schießt den zugespielten Ball direkt aufs Tor. Während der Keeper den Ball abwehrt, läuft der Trainer zu einem den beiden hochgeworfenen Bälle und schließt wieder direkt mit einem Torschuss ab, während der Torhüter einen Torerfolg im Stand, mit Abtauchen, im Block oder Ballangriff verhindert.
Bis zu 95 Prozent der Umwelteindrücke werden im Sport über das Sehorgan aufgenommen. Es gibt also gute Gründe, über geeignete Übungen die Fähigkeiten des Auges immer wieder im Torwarttraining zu schulen und zu verbessern.