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Während und nach der WM 2018 in Russland sind sich zahlreiche Experten, Fans und Medienvertreter einig: Die Teilnehmer haben nur wenig taktische Innovationen und kreative Offensivansätze gezeigt. Geprägt von teilweise sehr tief stehenden Mannschaftsverbänden, die sich in und um den Strafraum herum postierten, war auch selten etwas von dem angepriesenen modernen Umschaltspiel zu sehen - bloß keinen Ballverlust riskieren. Auch von den wenigen klassisch heraus gespielten bzw. kombinierten Toren waren nur vereinzelt wirklich anschauliche Aktionen zu beobachten. Dennoch erzielte die WM mit insgesamt 169 Toren bzw. 2,64 Toren / Spiel einen absoluten Top-Wert im historischen WM-Ranking. Seit 1990 waren nur die Turniere 1994 und 2014 in Bezug auf die Torquote geringfügig besser.

Wie aber sind die Tore dieser Weltmeisterschaft gefallen und welche Rolle spielten dabei die Torhüter ? Neben einer quantitativ-statistischen Auswertung der WM 2018 möchte der folgende Beitrag im weiteren Verlauf insbesondere eine qualitative Betrachtung der Gegentore und der damit eng verbundenen Torwart-Leistungen nachvollziehen sowie die Ergebnisse der Analyse für die Torwart-Ausbildung nutzen. Gefühlt konnte man in diesem Turnier mehr denn je Tore nach Standardsituationen, Flanken, Elfmetern und Eigentoren registrieren. Sind das die neuen Top-Themen im Torwart-Training ? Ganz sicher nicht allein. Die Analyse wird sich daher mit beiden Aspekten beschäftigen: Welche Lösungen finden bzw. wählen die weltbesten Torhüter für die klassischen Torabschluss-Situationen und was lassen sie sich auf der anderen Seite für die „neuen“ Spielanforderungen einfallen. Man muss immer vorsichtig dabei sein, von lediglich einem Turnier aus unmittelbar langfristige Trends abzuleiten, dennoch ist es nicht nur interessant, sondern auch überaus ergiebig, sich mit unterschiedlichen Spielsituationen in Bezug auf verschiedene Ansätze des Torwart-Spiels kritisch auseinanderzusetzen.

Die WM-Analyse ist in drei große Blöcke eingeteilt: Im ersten Teil geht es um die quantitativ-statistischen Leistungswerte der 41 im WM-Turnier zum Einsatz gekommenen Torhüter. Im zweiten Teil wird dieses erste Anforderungsprofil des Torwart-Spiels erweitert um eine ausführliche sowie detaillierte Toranalyse, die aufbauend auf dem Zonenmodell des DFB insbesondere auch die Art der Torerzielung unter die Lupe nimmt. Abschließend werden dann aufbauend auf den ersten beiden Teilen qualitative Ergebnisse und Konsequenzen für die Torwart- sowie Torwart-Trainer Ausbildung ab- bzw. hergeleitet.

Bevor wir uns im Folgenden zunächst den allgemeinen Leistungsdaten der WM-Torhüter widmen, soll ganz zu Beginn der absolute Meister seines Faches gebührend Erwähnung finden. Jede WM und jede Wahl zum besten Torhüter hat ihre eigene Geschichte. Bei der WM 2014 stand hinter der Wahl von Manuel Neuer neben herausragenden Aktionen zur Torverteidigung und einer sehr niedrigen Fehlerquote insbesondere die Rolle als mitspielender Torwart. Wie lässt sich die Geschichte von Thibaut Courtois bei dieser WM als Träger des goldenen Handschuhs erzählen ? Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Belgier in der WM-Geschichte der erste zum besten Torhüter gewählte Vertreter seiner Zunft war, der nicht im Finale stand. Zum einen ist diese Geschichte ganz sicher auch ein Produkt, das im Gesamtpaket zu bewerten ist, d. h. in einem engen Zusammenhang mit dem Auftreten der belgischen Mannschaft insgesamt gesehen werden muss. Zum anderen lässt sie sich in der Entwicklung von Thibaut Courtois als international erfolgreich agierender Torhüter der vergangenen Jahre finden bzw. erklären.

Dieses Gesamtpaket mündete dann in einer ohne Frage auch hervorragenden Leistung während des WM-Turnieres, bei der er neben einer äußerst niedrigen Fehlerquote auch zahlreiche „Big Saves“ (Vereitelung von 100%-Torchancen) landen konnte. Wie sah diese Leistung aber konkret aus, d. h. wie sehen als Maßstab die konkreten Leistungswerte des weltbesten Torhüters aus ? Schauen wir uns zunächst seine individuellen Messzahlen an, um sie im Anschluss mit den anderen Torhütern des Turniers zu vergleichen.

Eines soll jedoch noch vorweg festgehalten werden: Bekanntermaßen ist jede Statistik mit Vorsicht zu genießen, insbesondere in Bezug auf ihre qualitative Aussagefähigkeit. Von reinen Zahlenwerten kann nicht automatisch auf ein bestimmtes Muster oder Ergebnis geschlossen werden. So wäre es im Folgenden beispielswiese fatal, von dem Wert der erfolgreichen Abwehraktionen des Torwarts automatisch auch auf die Qualität dieser Abwehraktionen zu schließen. Ein hoher Wert bei den erfolgreichen Abwehraktionen sagt nichts darüber aus, welche Qualität die Torabschlüsse hatten, die der entsprechende Torhüter erfolgreich abwehren konnte, d. h. ob diese einfach oder eher schwierig zu verteidigen waren. Dennoch wollen wir im Folgenden auch den quantitativen Zahlen des Torwart-Spiels einen entsprechenden Raum geben. Zum einen weil sie ohne Zweifel sehr interessant sind und zum anderen, weil sie in ihrer Gesamtansicht sowie in Kombination mit den qualitativen Analysen weiter unten ein Gesamtbild ergeben bzw. dieses ergänzen können.

Der beste Torhüter

Thibaut Courtois
Thibaut Courtois
26 Jahre, 1,99 Meter
7 Spiele, 630 Minuten Spielzeit
27,6 km, 3,94 km pro Spiel
M. Neuer in 2014: Ø 5,5 km
231 Pässe, 33 pro Spiel 66 Abwürfe, 9,4 pro Spiel 27 Abwehraktionen, 3,9 pro Spiel
Erfolgsquoten
Abwehraktionen: 81,8%
M. Neuer in 2014: 85,7%
Pässe: 79,2% Torabstöße: 76%

Wie wir im Folgenden sehen werden, liegen die Werte von Thibaut Courtois in allen Bereichen deutlich über dem Durchschnitt des WM Turnieres. Wie sieht der theoretische Durchschnitts-Torwart bei der WM 2018 aus? 41 Torhüter kamen insgesamt zum Einsatz, bei Saudi Arabien sogar alle drei Torhüter des Kaders.

41 eingesetzte Torhüter, Ø-Größe: 1,89m
Abwehraktionen: 63,9% Pässe: 69,2% Torabstöße: 61,4%
Abwehraktionen
Steve Mandanda
Steve Mandanda
Kasper Schmeichel
Kasper Schmeichel

Jo Hyeon-woo
100% 91,3% 81,3%
Nur ein Spiel gegen Dänemark im Einsatz. Hier ingesamt nur 5 Torschüsse von Dänemark, ein Schuss auf sein Tor. Gefühlter Sieger in der Quote. Teilweise unorthodoxe Abläufe, aber erfolgreich, insbesondere bei Elfmetern. Die asiatische Überraschung bei der WM. Überragende Sprungkraft, wenig Fehler.
Offensivaktionen
Manuel Neuer
Manuel Neuer
Methew Ryan
Mathew Ryan
Alisson
Alisson
95,1% erfolgreiche Pässe,100% Torabstöße 92,4% erfolgreiche Pässe, 91% Torabstöße 90,9% erfolgreiche Pässe, 94% Torabstöße
Nach wie vor einer der besten, mitspielenden Torhüter. Nicht nur mit dem Fuß ein echter Gewinn für Australien. Nicht umsonst in der Premier-League mit guten Leistungen. Auch die brasilianischen Torhüter können hervorragend Fussball spielen. Durchschnitt bei den Abwehraktionen.
Quoten-Verlierer
David De Gea
David De Gea
Wojciech Szcezesny
Wojciech Szcezesny
Ali Beiranvand
Ali Beiranvand
14,3% erfolgreiche Abwehraktionen 16,7% erfolgreiche Abwehraktionen 43,4% erfolgreiche Pässe
39% Torabstöße
Bei einem Torschuss war dieser zu 85,7% ein Gegentor. Machte ingesamt eine unglückliche Figur, oft wenig Chance sich auszuzeichnen. Machte ingesamt nur zwei Spiele. Bei diesen war jeder Torschuss zu 83,3% ein Gegentor. Mit 77,8% ganz sicher neben Jo Hyeon-woo eine positive Überraschung der WM in der Torverteidigung. Probleme in der Spieleröffnung, jedoch sehr viele lange Pässe.

Toranalyse

In Bezug auf die Anzahl der erzielten Treffer war die WM 2018 mit 169 Toren (2,64 / Spiel) ganz sicher erstklassig. Wie die historische Betrachtung der WM-Turniere seit 1990 zeigt, gab es lediglich bei der WM 1994 und der WM 2014 im Turnierverlauf geringfügig mehr Tore pro Spiel. Nach 1.635 abgegebenen Torschüssen in 64 Spielen (25,5 / Spiel) der WM 2018 soll es im Folgenden zunächst in einer detaillierten Toranalyse darum gehen, die 169 erzielten Treffer im Kontext des Zonenmodells etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, schließlich sind auch bei dieser WM wieder schwerpunktmäßig fast alle Tore nach einer Abschlussaktion innerhalb des Strafraums erzielt worden. Mit 86,4 % (inkl. Elfmeter und Eigentore) hält sich die Quote aus Russland gegenüber der Quote von 88,8 % von dem Turnier in Brasilien fast die Waage. Das Zonenmodell dient dem DFB im Rahmen der Torwart-Trainer Ausbildungen sowie des neuen Ausbildungsleitfadens als zentrales Vermittlungsmodell und kann wie folgt dargestellt werden:

Torzonen

Die genaue Verteilung der Treffer auf die jeweiligen Zonen lässt sich in der folgenden Übersicht ablesen. Die Tore durch Elfmeter sowie die Eigentore sind hierbei gesondert aufgelistet bzw. heraus gerechnet worden, um eine noch genauere Differenzierung in der Art der Torerzielung zu ermöglichen:

Bereich der Torerzielung Differenzierung Entfernung / Distanz zum Torwart Flugbahn des Balles
Zone 1: 5,9% aller Tore (N=10) Schuss: 6 Tore (3,5%) Nah: 6 Tore
Fern: 0 Tore
Kopfball: 4 Tore (2,4%)
Zone 2: 14,2% aller Tore (N=24) Schuss: 22 Tore (13,0%) Nah: 14 Tore Flach: 8 Tore
Hoch: 6 Tore
Fern: 8 Tore Flach: 2 Tore
Hoch: 6 Tore
Kopfball: 2 Tore (1,2%) Flanke im 16er: 0 Tore
Flanke außerhalb des 16er: 2 Tore
Zone 3: 46,2% aller Tore (N=78) Schuss: 53 Tore (31,4%) Nah: 45 Tore Flach: 25 Tore
Hoch: 20 Tore
Fern: 8 Tore Flach: 5 Tore
Hoch: 3 Tore
Kopfball: 25 Tore (14,8%) Flanke im 16er: 4 Tore
Flanke außerhalb des 16er: 21 Tore
Zone 4: 13,6% aller Tore (N=23) Schuss: 23 Tore (13,6%) Flach: 4 Tore
Hoch: 19 Tore
Kopfball: 0 Tore
Elfmeter: 13,0% aller Tore (N=22)
Eigentore: 7,1% aller Tore (N=12)
Definitonen
Nah: Wenige Meter vom Torwart entfernt (max. 5 - 6 Meter)
Fern: Einige Meter vom Torwart entfernt (ab 6 - 7 Meter bis maximal zur Gernze des 16-Meterraumes
Flach: Dauerhafter Bodenkontakt des Balles
Hoch: Alles, was nicht in die Kategorie flach gehört.

Die o. a. Auswertung lässt sich zu folgenden Hauptaussagen zusammenfassen: Zentral bleiben nach wie vor Abschlusssituationen im Strafraum. Auf diese Aktionen müssen die Torhüter insbesondere taktisch und technisch vorbereitet werden. Tendenziell rücken die Abschlussaktionen mehr ins Zentrum (von außen nach innen) und auch näher an das Tor bzw. an den Torhüter heran. 44,2 % aller WM-Tore fallen aus Aktionen in einer „Nahdistanz“, d. h. wenige Meter vom Torwart entfernt. Die Torhüter schaffen es hierbei trotz sehr kleiner virtueller Tore scheinbar sehr oft nicht, in eine effektive Gegenaktion zur Torverteidigung zu kommen.

  • In Zone 1 fallen bei dieser WM weniger Tore als bei der WM 2014 in Brasilien. Die Quote sinkt von 10 % auf 5,9 %. Alle Tore in dieser Zone fallen aus Nahdistanzen und fast ausgeglichen per Schuss bzw. per Kopfball.
  • Auch in Zone 2 sind im Vergleich zu 2014 wesentlich weniger Treffer zu verzeichnen. Der Wert sinkt von 21,2 % auf 14,2 %. In Summe nehmen die Treffer von außen (Zone 1 + Zone 2) um insgesamt 11,1 % ab. In dieser Zone fallen kaum Tore per Kopfball, sondern vielmehr aus Torschüssen in Nah- und Ferndistanzen gleichermaßen. Bei den Schüssen aus Ferndistanzen sind es ausschließlich hohe Bälle, für die die Torhüter aufgrund der Flugkurve hinten ins lange Eck bisher noch kaum Lösungsansätze anzubieten haben.
  • Die Zone 3 bleibt mit einer Tor-Quote von 46,2 % aller WM-Treffer auch weiterhin die Königsdisziplin für jeden Torhüter. Ebenso bleibt der Wert im Vergleich zu 2014, wo 47,2 % aller Treffer in dieser Zone erzielt wurden, fast konstant. Nirgendwo sonst zeigt sich das bereits o. a. Phänomen der Gegentore aus Nahdistanzen so gravierend wie in dieser Zone: 85 % aller Treffer in Zone 3 fallen in Folge von Nahdistanz-Schüssen, unabhängig ob flach oder hoch. Ergänzend zu den Nahdistanz-Schüssen zeigt sich ein weiteres TOP-Thema in Zone 3: Nahdistanz-Kopfbälle. 25 aller WM-Tore (14,8 % aller WM-Treffer) fielen durch einen Nahdistanz-Kopfball in Zone 3. In der WM-Endrunde fielen sogar mehr Tore durch diese Kopfball-Abschlüsse als durch Torschüsse. 84 % dieser Kopfbälle kamen im Anschluss an eine Flanke außerhalb des 16ers zu Stande.
  • Bei den Zone 4 Toren ist ein leichter Anstieg im Vergleich zur WM 2014 zu verzeichnen: Von 11,1 % auf 13,6 %.

Wenn wir die WM 2014 in Brasilien als Vergleich heran ziehen, dann wurde die relativ geringe Quote an klassisch heraus gespielten Toren bei der WM 2018 insbesondere durch zwei Arten der Torerzielung ausgeglichen: Knapp dreimal so viele Tore nach Standardsituationen (inkl. Elfmeter) und nach Eigentoren. Die gefühlte Steigerung lässt sich auch anhand der Zahlen bestätigen:

  • Steigerung der Elfmeter von 7,6 % auf 13,0 %
  • Steigerung der Eigentore von 2,9 % auf 7,1 %.

Ebenso können wir eine deutliche Steigerung bei Toren nach Standardsituationen generell festhalten: 70 Tore, das entspricht einer Steigerung im Vergleich zur letzten WM von 25,3 % aller WM-Tore im jeweiligen Turnier (genauer: WM 2014 -> 15,7 % / WM 2018 -> 41 %), davon 10 % nach direkten Freistößen, 31,4 % nach Elfmetern und 58,6 % nach Ecken-/Freistoßflanken.

Analyse Thibaut CourtoisWM 2018

Christian Lasch

Christian Lasch

Christian Lasch ist der Gründer von MeineTorwartschule. Der ehemalige Torhüter von Fortuna Düsseldorf leitet heute die Torwart-Ausbildung des NLZ dieses Vereins. Als Inhaber der DFB Trainer A – Lizenz und der UEFA Torwart-Trainer A – Lizenz ist er beim DFB Referent für die "Torwart-Ausbildung/Torwart-Training " in den nationalen Trainerausbildungen (Elite-Junioren-Lizenz/A-Lizenz) sowie in den internationalen Trainerausbildungen (CDTC – Coaching & Technical Development Course). Daneben arbeitet er als Honorar Torwart-Trainer für die DFB-Mädchen U-Nationalmannschaften. Christian ist ein also ausgewiesener Fachmann im Bereich Torwarttraining.

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