Big Data hält auch im Fußball immer mehr Einzug. Anhand von Millionen von Daten unterstützen künstliche Intelligenz und IT-Spezialisten Fußballtrainer weltweit bei der Analyse der eigenen Mannschaft sowie der des Gegners. Auch in den Medien wird das Publikum in der Berichterstattung immer häufiger mit Zahlenmaterial gefüttert. Angaben zum Ballbesitz, zur Passquote oder zum Expected Goal-Wert helfen den Zuschauern, einen Spielablauf besser einordnen zu können. Neben Daten zum taktischen Gesamtverhalten eines Teams gibt es viele positionsbezogene Daten, auch zu Torhütern. Nicht entscheidend ist aber die Anzahl von Daten, die zur Verfügung stehen, sondern die Frage, wie man sie am besten für sich nutzen kann.
Der deutsche Meister Bayer Leverkusen hat für die Datenanalyse speziell im Torwartbereich mit Olivier Ossowski einen Datenanalysten, der bereits seit fünf Jahren als Zuarbeiter für David Thiel, dem Torwarttrainer der Profimannschaft, in dieser Funktion arbeitet. Seine Aufgabe ist es, die Torhüterleistung anhand von objektiven Kennzahlen darzustellen und eine datenbasierte Bewertung der Torhüterleistung vorzulegen. Beim alljährlich von der Firma „Safehands – the art of goalkeeping“ durchgeführten Torwarttrainertag in Bregenz gab Ossowski Einblicke in seine Arbeit. Er erklärte, welche Kennzahlen zur Bewertung der Torhüterleistung geeignet sind. In seinem Vortrag beschränkte sich Ossowski ausschließlich auf den Bereich der Torverteidigung, während andere wichtige Aspekte des Torwartspiels, wie z.B. die Spieleröffnung, nicht berücksichtigt wurden. Doch welchen Daten helfen eigentlich, die Leistung eines Torhüters nicht nur subjektiv, sondern anhand von objektiven Daten einschätzen und bewerten zu können?
Spezielle Daten für Torhüter

Wirft man einen Blick auf die Zahlen, die häufig in Medien zur Beurteilung von Torwartleistungen verwendet werden, begegnet man Kennzahlen wie Ballkontakte, Passquote, Paraden, abgefangene Bälle nach Flanken, abgewehrte Bälle, der Weißen Weste sowie dem Expected-Goal-Wert. Viele dieser Werte sind nach Ossowskis Ansicht wenig aussagekräftig, weil sie nur die Gesamtzahl an Aktionen erfassen, ohne den Schwierigkeitsgrad berücksichtigt zu haben. So ist z.B. für eine gute Passquote bei langen Bällen bei einem Torhüter entscheidend, ob und wieviel Druck er in der Aktion hatte oder ob er den Ball unbedrängt spielen konnte. Der zweite wichtige Einflussfaktor ist zudem der eigene Spielstil. Denn bei einer kurzen Spieleröffnung auf einen seiner Innenverteidiger erreicht der Torwart eine bessere Passquote, als wenn er das Spiel über lange Bälle eröffnet und seine Stürmer in Kopfballduelle schickt, wo die Chance einer eigenen Ballkontrolle nur etwa 50 % beträgt. Außerdem spielt die Positionierung seiner Mitspieler eine wichtige Rolle. Wenn diese gut ist, findet der Schlussmann leichter und sicherer eine Anspielstation und verbessert damit seine Passquote.
Ähnliches gilt auch für die Quote der abgefangenen Flanken sowie die Anzahl der gehaltenen Bälle. Erfasst wird lediglich die Anzahl der Torschüsse, die der Keeper gehalten hat, die Qualität der Schüsse (Distanz, Schussstärke, Schusswinkel) wird dabei nicht berücksichtigt. Trotzdem werden diese Zahlen aber ständig für die Bewertung des Keepers in den Medien herangezogen, um Beurteilungen mit scheinbar objektiven Daten zu untermauern. In seinem Vortrag ging Ossowski zunächst speziell auf den Expected Goal-Wert ein, weil er die Basis dafür ist, den Post-Shot xG zu verstehen, der zur Beurteilung von Torhüterleistungen entscheidend ist. Deshalb erklärte Ossowski vorab, was mit diesem Begriff Expected Goal gemeint ist und wie dieser Wert ermittelt wird.
Expected Goal - Die Qualität einer Torchance
Was bedeutet der Begriff?
Der Expected-Goal-Wert gibt die Torwahrscheinlichkeit eines Schusses und damit die Qualität einer Torchance an. Er beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Schuss tatsächlich zum Torerfolg führt. Um den xGoal-Wert zu ermitteln, wurden mehrere 100 000 Torschüsse aus der Vergangenheit heranbezogen. Bei dieser Analyse wurde festgestellt, dass es verschiedene Faktoren gibt, die die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolges entscheidend beeinflussen.
Zu welchem Zeitpunkt wird der Wert ermittelt?
Der Expected-Goal-Wert wird genau in dem Moment ermittelt, in dem der Schütze an den Ball kommt und aufs Tor abschließt, egal, ob der Ball ins oder neben das Tor geht oder vom Abwehrspieler geblockt wird. Häufig gelten alle Aktionen mit einem höheren Wert als 0,20 als Großchance.
Welche Faktoren beeinflussen den xGoal-Wert?
Anhand von verschiedenen Spielszenen aus der Bundesliga stellte Ossowski dar, welche Torwahrscheinlichkeit in der jeweiligen Szene vorlag.
a) Der Schusswinkel
Einen sehr hohen Einfluss auf die Qualität einer Torchance und damit auf den xGoal-Wert hat der Schusswinkel, wie die folgenden beiden Beispiele zeigen.

In Situation 1 befindet sich der Schütze zentral vor dem Tor in der Nähe des Elfmeterpunktes. Der Torwinkel beträgt ca. 37 Grad. In dieser Situation (schwarze Linien) liegt die Torwahrscheinlichkeit bei 43 %. Würde der Angreifer hingegen aus einem spitzen Winkel (Situation 2) auf das Tor schießen, würde auch die Torwahrscheinlichkeit abnehmen, weil der Schütze eine kleinere Fläche zum Torabschluss hat.
b) Die Distanz
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Distanz.

Bei dem in der Grafik dargestellten Spielsituation mit einem Schuss aus zirka 25 m liegt die Torwahrscheinlichkeit bei 17 %. Würde der Schütze 13 m näher zum Tor kommen, würde der Torerfolg beträchtlich ansteigen.
c) Der Druckfaktor / Schussfenster
Als nächstes spielt der Druckfaktor beim xGoal-Wert eine Rolle, der mit Hilfe der folgenden Grafik verständlich wird.

Vor dem Schützen und vor dem Tor ist sehr viel Verkehr. Eigentlich gibt es wenig Schussfenster, durch die der Ball durchdringen könnten. Deshalb ist der Druckfaktor sehr hoch, die Torwahrscheinlichkeit hingegen mit etwa 4 % klein. Ohne die Abwehrspieler vor sich - also mit freier Schussbahn - würde der xGoal-Wert enorm ansteigen.
d) Position des Torhüters
Ganz entscheidend für die Torwahrscheinlichkeit ist auch die Position des Torhüters, wie die folgenden beiden Grafiken zeigen.

In Grafik 1 ist der Torwart durch einen Querpass aus dem Spiel, der angespielte Stürmerkollege kann den Ball nahezu ohne Gegnerdruck ins nahezu leere Tor einschieben. Die Torwahrscheinlichkeit ist in diesem Fall sehr hoch, sie entspricht einem Wert von 97 %.
Würde derselbe Querpass bei einer anderen Positionierung des Keepers erfolgen, wäre der xGoal-Wert deutlich geringer, wie Grafik 2 verdeutlicht.

In diesem Fall kann der Torhüter die Schussfenster des Stürmers beträchtlich reduzieren (siehe rote Linien) und kann außerdem mit seinem Körper Raum abdecken. Dem Schützen fällt ein Torerfolg deutlich schwerer.
e) Weitere Faktoren ….
Neben diesen vier wichtigen Aspekten, die den xGoal-Wert bestimmen, wies Ossowski darauf hin, dass das dargestellte System vereinfacht dargestellt ist und es noch weitere Einflussfaktoren gebe, wie z.B. die Art des Assists. In diesem Fall wird geschaut, ob der Torabschluss nach einer Flanke, einem Steilpass oder einem Dribbling erfolgte, ob der Ball mit dem ersten oder nach weiteren Kontakten aufs Tor geschossen wurde, ob der Torabschluss mit dem Kopf oder mit dem Fuß erfolgte. Zum Verständnis des Expected-Goal-Wertes genüge aber die Kenntnis der wichtigen Faktoren.
xGoals-Wert und Spielergebnis
Während und nach dem Spiel sind die Expected Goals inzwischen ein Teil der Berichterstattung, und auch Trainer ziehen den xGoal-Wert gerne zur Erklärung des Spielergebnisses heran. Doch wie wird dieser Wert errechnet?

In der dargestellten Spielszene liegt die Torwahrscheinlichkeit bei 43 %. Da in der Statistik nicht mit Prozentwerten, sondern nur mit ganzen Zahlen gerechnet wird, lautet der xG-Wert für diese Szene 0,43. Meist hat eine Mannschaft in einem Spiel mehrere Torchancen. Diese verschiedenen Werte werden zu einem Gesamtergebnis zusammenaddiert. Hätte z.B. eine Mannschaft in demselben Spiel weitere Torabschlüsse mit xG-Werten von 17 % (0,17), 4 % (0,04) und 97 % (0,97), käme das Team in der Gesamtsumme auf einen xGoal-Wert von 1,61. Das bedeutet, dass man bei allen Torchancen in einem Spiel statistisch erwarten würde, dass die Mannschaft ungefähr 2 Tore in diesem Spiel erzielt.
Dass das Spielergebnis und die Erwartungen des Expected Goals nicht immer übereinstimmt, zeigt beispielsweise das Spiel aus der vergangenen Saison zwischen Eintracht Frankfurt und Bayern München. Das Spiel endete 5:1 für die Eintracht. Frankfurt hatte einen Expected-Goal-Wert von 1,62, die Bayern von 1,81. Nach den Expected-Goal-Werten wäre wohl ein Unterentschieden (2:2) gerechnet gewesen. Stattdessen endete das Spiel aber klar für die Hessen, d.h. aus einem xGoal-Wert von 1,62 erzielte Frankfurt fünf Tore. Offensichtlich hatten die Hessen aus wenig Chancen viel gemacht, während die Bayern Tore hinnehmen mussten, die eigentlich keine großen Torchancen waren.
Noch wichtig: Es gibt nicht den einen Expected-Goal-Wert. Inzwischen tummeln sich mehrere Datenanbieter auf dem Markt, wie Statsbomb, Stats Perform (Opta), aws oder Impect. Weil jeder Anbieter seine eigenen Modelle hat, können die Werte untereinander leicht variieren.
In einer weiteren Text, der in Kürze folgen wird, werden wir darstellen, wie Olivier Ossowski mit den angeführten Daten die Leistungen der Torhüter analysiert und objektiviert. Für Daniel Memmert, Sportwissenschaftler und Hochschullehrer an der Sporthochschule in Köln, haben Big Data einen entscheidenden Vorteil: Sachverhalte können ohne emotionale Einflüsse völlig rational betrachtet werden. Sie führen zu einer Objektivierung von den Dingen, die auf dem Platz stattgefunden haben.